Nehammer - © FOTO: APA/ROLAND SCHLAGER

Nehammer-Rede: Welcher „Untergangsirrsinn“?

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Ist die Hoffnung, dass technischer Fortschritt alle ökologischen Probleme lösen würde, berechtigt? Ein Gastkommentar über die jüngste Rede „zur Zukunft der Nation“ von Karl Nehammer – und die Thesen des kommunistischen Kulturphilosophen Wolfgang Harich.

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Ist die Hoffnung, dass technischer Fortschritt alle ökologischen Probleme lösen würde, berechtigt? Ein Gastkommentar über die jüngste Rede „zur Zukunft der Nation“ von Karl Nehammer – und die Thesen des kommunistischen Kulturphilosophen Wolfgang Harich.

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Was an der vielfach besprochenen Grundsatzrede des Bundeskanzlers „zur Zukunft der Nation“ Mitte März besonders auffällt, ist dieses merkwürdige Schlingern der Argumente. Drei Wochen davor hatte Karl Nehammer (ÖVP) die Regierungspolitik in der Coronakrise zusammenfassend erläutert: „Wir waren expertenhörig.“ Heißt wohl: Künftig weniger auf Experten hören! Aber wenig später, nachdem Nehammer den Klimawandel in seiner Grundsatzrede nur kurz erwähnt hatte, weil der „kein nationales Thema“ sei, und nachdem er dafür heftig kritisiert worden war, erklärte der Kanzler, die Klimafrage sei nur „durch Forschung, durch wissenschaftliche Höchstleistungen und durch Innovation“ zu lösen. Also jetzt doch wieder auf Experten hören? Und heißt das, dass Politik und Bevölkerung mehr oder minder die Hände in den Schoß legen können und warten, worauf die Wissenschaft draufkommt? Genau das meint sinngemäß auch die FPÖ, wobei die noch einen Schritt weitergeht und eine Bedrohung von uns allen durch Veränderungen des Weltklimas überhaupt leugnet.

Aufrüttelnder Bericht des „Club of Rome“

Das tut Nehammer nicht. Seine Hoffnung, technischer Fortschritt würde in Zukunft die ökologischen Fragen lösen – aktualisiert in der soeben präsentierten ÖVP-Frühjahrskampagne mit dem Motto „Klimaschutz durch Fortschritt statt Untergangsszenarien“ –, ist so alt wie diese Fragen selbst. Der große Streit beginnt mit einer weltweit aufrüttelnden Studie – „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ aus dem Jahr 1972 – und eskaliert nach mehreren Katastrophen in der Chemie- und Atomindustrie: Seveso 1976, Harrisburg 1979, Bhopal 1984, Tschernobyl 1986. Parallel dazu wuchs die Kritik an dieser Form industriellen Fortschritts und die Frage nach seiner zuverlässigen Beherrschbarkeit.

Ein wichtiger Exponent dieser Kritik war der Kulturphilosoph Wolfgang Harich aus der DDR, ein überzeugter Kommunist, der in seiner Jugend aus der Wehrmacht desertiert war, um in einer Berliner Widerstandsgruppe aktiv zu sein, jedoch ab 1956 in der DDR wegen „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ acht Jahre im Gefängnis saß, weil er die herrschenden Zustände in der DDR so nicht hinnehmen wollte. In den 1970er Jahren hatte sich Harich der Ökologie zugewandt, veröffentlichte 1975 „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der Club of Rome“, womit er natürlich wieder nicht auf Parteilinie lag. Gegen Ende der 1970er lebte Wolfgang Harich ein Jahr in Wien und ich habe viele – für mich hochinteressante – Gespräche mit ihm geführt. Er hatte damals zwei zentrale Thesen:

Erstens, dass Wissenschaft und Fortschritt allein nicht ausreichen werden, um die drohenden ökologischen Herausforderungen bewältigen zu können. Als seinen wissenschaftlichen Hauptgegner im deutschen Sprachraum bezeichnete er den Schweizer Ökonomen Hans Christoph Binswanger. Harich sprach von Binswangers verfehlter „Durchbrecherstrategie“ – und eben dieser huldigt heute der österreichische Bundeskanzler. Neu ist die Theorie also nicht.

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