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Seelenwanderung und Kinderreichtum

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Zum zweiten ist — und um das zu spüren, genügt eine einzige Begegnung mit kinderreichen Familien in der bittersten Armut, etwa in dem „Hungerstaat“ Bihar — die Relation zwischen Kopfzahl der Familie und materiellem Standard diesen Menschen keineswegs bewußt. Der Gedanke, daß man ein Kind, also einen lebenden Menschen, linear umsetzen kann in Kosten bzw. eine Ersparnis, ziffernmäßig in Minimal- und Maximalwerten ausdrückbar, wird erst allmählich durch die Plakataktionen und andere Propagandamittel der öffentliehen Stellen an die Menschen herangetragen. Hier aber droht, wenn auch vielleicht nicht akut und unmittelbar, eine andere Gefahr: daß nämlich die Grenze zwischen dem Nichtakzeptieren eines künftigen Kindes und deri Beseitigung bereits lebender, die Familie belastender Esser verwischt. Diese Gefahr kann durch die sogenannte „Moming~after“-Pille nur vergrößert werden, wiewohl es einigermaßen schwierig ist, völlig ungebildeten, extrem einfachen Menschen den prinzipiellen Unterschied zwischen der einen und der anderen „Pille“ klarzumachen.

Was von den meisten europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern offenkundig weitgehend vernachlässigt wird, ist aber — noch mehr als die Möglichkeit verschiedenster Auswirkungen auf die Gesamtstruktur — die subjektive Bedeutung des Kindes von der Empfängnis an für die Familie und vor allem die Mutter. Für den Großteil dieser Ärmsten der Armen gibt es in ihrem ganzen Leben nur zwei Positivs: den Glauben an das eigene Fortleben nach dem Tode, konkretisiert in der Vorstellung der Seelenwanderung, als metaphysischen Trost, und das tiefempfundene Glück der Elternschaft. Die Freude, ein Kind zu gebären, zu stillen, zu umhegen (wenn auch oft mit Mitteln, die der Hygiene und der europäischen Vernunft völlig widersprechen), ist die tiefste, echteste und sehr oft die einzige Freude, die Millionen Frauen überhaupt kennen. Ihnen diesen Lebensinhalt zu nehmen beziehungsweise stark zu beschränken, noch dazu in einer Zeit, in der andere Einflüsse den Seelenwanderungsglauben systematisch untergraben, kann einen bitteren Nihilismus auslösen, dessen Folgen zudem politisch außerordentlich gefährlich werden können — und das nicht nur für Indien selbst.

Fragwürdige Methoden

Ein konkretes Beispiel: ein Arzt, der seit Jahrzehnten im indischen Süden tätig ist, hat im Lauf seines Wirkens so gut wie alle nur denkbaren Krankheiten kennengelemt, auch solche, ' die ins Gebiet der Psychiatrie fallen. Echte Neurosen und Psychosen bei Frauen hat er erst in allerletzter Zeit zu diagnostizieren gehabt — nachweislich nur bei solchen Patientinnen, denen weitere Kinder mehr oder minder gewaltsam versagt worden waren. Aus anderen Gebieten verlautet, daß die psychischen Auswirkungen von Eingriffen an Männern noch deutlicher zu vermerken seien. Das gilt vor allem für solche Fälle, in denen sogenannte „Gesundheitsagenten“ mit der Zusicherung eines kleinen Geldbetrags, eines Transistorradios oder einer anderen Gabe Männer dazu überreden, sich operieren zu lassen, ohne daß die Betreffenden genau wissen, was mit ihnen geschieht. Wird ihnen dann nachträglich eine Erklärung zuteil und erfassen sie die Unwiderruflichkeit der Sache, so liegen ernsthafte psychische Störungen nahe. Dies erweist sich oft schon bei jenen „normalen“ Fällen, in denen, wie gesetzlich vorgesehen, die Sterilisation nur vorgenommen wird, wenn die' Familie'bereits mindestens drei Kinder hat und die Durchführung der Operation zumindest formal auf freiwilliger Basis erfolgt ist. Krasser bietet sich die Lage, wenn der Eingriff, was gegen das Gesetz ist, aber immer wieder vorkommt, an Frauen anläßlich der dritten oder vierten Geburt vorgenommen wird, ohne daß eine Genehmigung eingehodt wurde, oder wenn, wofür jüngst ein Beispiel durch Prozeßberichte aus

Kalkutta bekanntgeworden ist, junge Männer unter allen möglichen Vorspiegelungen und in irreführender Absicht auf den Operationstisch gebracht werden. Darüber, daß solche Methoden gegen jedes Menschenrecht sind, besteht freilich nirgendwo Zweifel, und die indischen Gerichte zögern nicht mit Verurteilungen — sofern sie der Schuldigen habhaft werden. Zweifellos ist das System der „Agenten“, die auf Provisionsbasis ihren Lebensunterhalt mit dem Ausflndiigmachen sterilisationsbereiter Männer verdienen, für Mißbräuche sehr anfällig. Anderseits dürfte jene Gesundheitfürsorgerim keine Ausnahme sein, die, selbst zum fünften Male guter Hoffnung, auf die Frage, wie sie denn andere Frauen dazu überrreden könne, höchstens drei Kinder zu haben, offen zur Antwort gab: „Das eine ist mein Beruf, damit erarbeite ich mir und meiner Familie einen Teil des Lebensunterhaltes, weil mein Mann nicht genug verdient; das andere ist mein eigenes Leben und da kann mir kein Mensch das Recht nehmen, so viele Kinder zu haben, wie mir eben geschenkt werden.“

Die Katholiken haben keine „Nebenabsichten“

Ein Gedanke schließlich bleibt noch zur Diskussion, der von einem Sek- tenmissionar, als Vorwurf gemeint, geäußert wurde: die strikte Ablehnung der „Familienplanung“ in Indien durch die Katholiken habe ihre Hauptursache in der Hoffnung, daß Andersgläubige ihren Nachwuchs reduzieren würden, so daß quasi zwangsläufig der Prozentsatz der Katholiken in den nächsten Generationen steigen werde. Davon, daß solche Erwägungen Hauptursache seien, kann natürlich nicht die Rede sein; auch die Realität einer solchen Rechnung ist mehr als fraglich, weil die Herkunft aus einer katholischen Familie heute keineswegs gleichbedeutend mit der aktiven lebenslangen Zugehörigkeit zur Kirche ist. Aber als einer der Aspekte am Rand eines der größten Probleme unseres Jahrhunderts kann wohl auch ein solcher Gedankengang nicht zur Gänze ausgeklammert werden.

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