Vernarbte Verfassung

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Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1920, wurde Österreichs Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen. Warum wir bis heute an ihm arbeiten müssen. Ein Gastkommentar von Christoph Konrath.

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Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1920, wurde Österreichs Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen. Warum wir bis heute an ihm arbeiten müssen. Ein Gastkommentar von Christoph Konrath.

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Kurz vor den Präsidentenwahlen in den USA werden die Verfassung und ihre Auslegung zum bestimmenden Thema. Wer soll Vorrang haben: der Wille der framers und signers von 1787 – oder die Hoffnungen auf Freiheit und Gleichberechtigung, die den Text weltweit zum Vorbild werden ließen?

In Österreich jährt sich zum gleichen Zeitpunkt die Beschlussfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) zum hundertsten Mal. Hier gibt es – nicht bloß Covid-bedingt – keine großen Feiern oder Debatten. Die Namen jener Politiker und Juristen, die im Sommer 1920 gegen die Uhr der bevorstehenden Neuwahlen arbeiteten, sind heute unbekannt oder werden nicht mit der Verfassung verbunden. Wer kennt noch Michael Mayr, Robert Danneberg, Georg Froehlich oder Adolf Merkl?

Als das B-VG fertig war, sprach keiner der Beteiligten von „Eleganz“. Sie standen vor Stückwerk. Es war von der Angst vor dem Scheitern und dem drohenden Zerfall des Bundesstaats die Rede. Das letzte Jahr der Verhandlungen war von Misstrauen und Vorstellungen darüber geprägt, wie der jeweils andere Macht und Einfluss gebrauchen würde. Die Idee von Karl Renner, des ersten Staatskanzlers, eine breite Debatte über die Verfassung zu führen und sie in einer Volksabstimmung beschließen zu lassen, war schon lange verabschiedet worden.

Verantwortung oder Technik?

Große Teile des Verfassungstextes waren von Anfang an knapp und offen gehalten. Das passte zur Verteidigung der Demokratie, die der Jurist Hans Kelsen in den kommenden Jahren entwickelte. Demokratie sollte das größtmögliche Maß an Freiheit und Gleichheit ermöglichen. Sie sollte nicht von vornherein durch starke Begriffe wie Volk, Herkunft, Macht und Gewalt beschränkt werden. Nur das Recht sollte ihre Sicherung und ihre gemeinsame Ausdrucksform sein. Das setzt die Bereitschaft zum Miteinander und zur Übernahme von Verantwortung voraus. Konsequenterweise tat Kelsen in Vorträgen und Artikeln viel, um dieses Verständnis zu fördern. Aber er blieb damit weitgehend allein.

Die Verfassung wird in Österreich von Juristen meist sehr genau, aber selten ernst genommen.

Christoph Konrath

In Österreich hat es (vielleicht abgesehen von 1848) auch nie so etwas wie einen constitutional moment gegeben. In solchen Momenten werden Fragen, in welcher Form Menschen im Staat leben wollen und sollen, ganz dringend und für viele greifbar. Ereignisse wie der Brand des Wiener Justizpalasts 1927, die großen Heimwehraufmärsche 1929, die Ausschaltung von Nationalrat und Verfassungsgerichtshof 1933, die Wiedererrichtung der Republik 1945 oder der Staatsvertrag 1955 haben tiefe Spuren in der Verfassung hinterlassen. Sie werden aber kaum je mit ihr in Verbindung gebracht.

Wer beginnt, den Vorläufern und den vielen Änderungen der Bundesverfassung nachzuspüren, der findet sie voller Narben und teilweise noch offener Wunden der Geschichte, voll Angst, die eigene Mehrheit und Durchsetzungsfähigkeit zu verlieren. Das alles ist aber von viel Text verdeckt und oft hinter versteckten Zugängen verborgen. Über diese wachen in Österreich nach wie vor die Juristen. Theo Öhlinger, viele Jahre Professor für Verfassungsrecht an der Uni Wien, hat einmal gesagt, dass diese die Verfassung meist sehr genau, aber selten ernst nehmen. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass man an Verfassungsrecht wie an andere Gesetze – etwa die Gewerbeordnung – herangeht, aber ihre grundsätzliche Bedeutung verkennt.

Grundlegende politische Fragen werden dann schnell zu bloßen Rechtsfragen, die wiederum nur von Experten diskutiert und gelöst werden können. Ihre Entsprechung findet das in politischen Auseinandersetzungen. Während in vielen Ländern gefragt wird: „Was sollen wir im Sinne der Verfassung tun? An welchem Maßstab soll sich unser Handeln orientieren?“, möchte man in Österreich in der Regel wissen: „Was ist möglich? Und wie weit können wir gehen?“ Auf etwas anderes kommt es dann nicht an. Alles, was darüber hinausgeht, ist keine unmittelbare Frage der Politik mehr. Damit können sich Experten befassen – egal ob es um Covid-Maßnahmen, Transparenz, Sozialrecht oder Sterben geht. Selbstverständlich ist es nicht ausgeschlossen, dass einzelne Fragen zum Verfassungsgerichtshof gelangen. Aber das braucht Zeit.

Das ursprüngliche Ziel von Verfassungen, das Politische im Interesse von Freiheit und Gleichberechtigung zu disziplinieren und politische Auseinandersetzungen im Interesse von Fairness und Teilhabe zu regeln, gerät damit in den Hintergrund. Dafür braucht es mehr als das Wissen um einzelne Vorschriften.

Erinnerung und Hoffnung

In geschichtlicher Sicht stellt Recht eine Form gesellschaftlicher Lernerfahrung dar. Rechtsnormen sind eine Antwort auf bestimmte Ereignisse, die so nicht mehr sein sollen. Schwierig ist dabei, dass Rechtsnormen nur mehr „die Antworten“ enthalten, dass die Geschichten und Erfahrungen, die Gefühle und Schmerzen, die am Anfang gestanden sind, nicht mehr erzählt und vergessen werden. In der Routine der Anwendung wird Recht selbstverständlich, ohne oft verstanden zu werden.

Unmittelbar damit ist Hoffnung verbunden. Verfassungen sind weder bloße Instrumente, noch können sie einen Idealzustand ermöglichen oder garantieren; sie stoßen aber gerade durch die verschiedenen Möglichkeiten, sie auszulegen, die Hoffnung an: dass es anders sein kann, dass wir nicht der Willkür ausgesetzt sind, dass wir in der Lage sind, über unsere gemeinsamen Angelegenheiten immer wieder von Neuem nachzudenken, und vernünftig begründete Antworten einfordern können.

Das alles muss sich mit einem konkreten Text und der Art, mit diesem umzugehen, verknüpfen lassen. Sosehr Erinnerung und Hoffnung Ansatzpunkte für eine breitere Auseinandersetzung mit Verfassungsfragen sein können, so sehr können sie verpuffen, wenn sie keine Verbindung zu rechtlichen und politischen Diskursen aufbauen können. An all dem müssen wir nach hundert Jahren noch immer arbeiten.

Der Autor ist Jurist und engagiert sich für die Plattform www.unsereverfassung.at.

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