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Diktieren die Gene den Lebenslauf?

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Beide liebten Hunde, verwendeten das gleiche Partum, trugen sieben Ringe an den Händen: Verblüffende Übereinstimmung bei getrennt aufgewachsenen Zwillingen ...

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Beide liebten Hunde, verwendeten das gleiche Partum, trugen sieben Ringe an den Händen: Verblüffende Übereinstimmung bei getrennt aufgewachsenen Zwillingen ...

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Wer kennt sie nicht, die endlosen Debatten über den Einfluß von Erbe und Umwelt? Kaum ein Schüler, der diesem Aufsatzthema in seiner Schulzeit entgehen kann. Die Sozialwissenschaften scheinen diese Frage heute allerdings entschieden zu haben: Für die Persönlichkeitsentwicklung seien Erziehung, Bildung, Werbung, Tabus oder Klischees ausschlaggebend. Selbst unser Mann- und Frausein sei nichts als das Ergebnis gesellschaftlicher Vorurteile, wird oft argumentiert.

Also gut. Ist diese Meinung jedoch wissenschaftlich gesichert? Durchaus nicht. Ein seit 1979 an der „University of Minnesota“ laufendes Projekt der Forschung an Zwillingen stellt dieses moderne Tabu nämlich in Frage.

Seit sieben Jahren erhebt dort ein siebzehnköpfiges Team von

Forschern aus verschiedenen Fachrichtungen die Merkmale von Zwillingen besonderer Art: Es handelt sich um Personen, die als Kleinkinder (durchschnittlich im Alter von vier Monaten) getrennt wurden und die in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind und meistens erst nach Jahrzehnten der Trennung im Rahmen des Projekts wieder zusammentrafen.

Bei den eineiigen Zwillingen stieß Thomas Bouchard, Leiter des Projekts, auf geradezu verblüffende Ubereinstimmungen, die wohl viel Aufmerksamkeit in den Medien, aber auch viel Kritik erregt haben.

Besonders bemerkenswert war das Paar Jack Yufe und Oskar Stöhr: 1933 als Söhne einer Deutschen und eines jüdischen Amerikaners in Trinidad geboren, wurden sie nach wenigen Monaten getrennt. Oskar wuchs bei der mütterlichen Großmutter im katholischen Milieu im nationalsozialistischen Deutschland auf. Sein Bruder wurde ein strenggläubiger Jude, übersiedelte nach dem Krieg nach Israel und ließ sich Jahre danach in Kalifornien nieder. Eine kurze Begegnung in der Nachkriegszeit war wegen der Sprachschwierigkeiten und dem unterschiedlichen persönlichen Hintergrund ein Mißerfolg.

Erst im Rahmen der Projekterhebungen sahen die beiden einander 1979 wieder: Sie sehen zum Verwechseln ähnlich aus, haben die gleiche Stimme, die gleiche Art, sich zu bewegen. Ihre Brillen sind fast gleich, ihre sportliche Kleidung sehr ähnlich und - über das linke Handgelenk haben beide ein Gummiband gestreift! .

So ein Unsinn, wird sich jetzt mancher denken. Da stimmt etwas nicht. Wo bleibt denn da der freie Wille des Menschen? Sind wir etwa ein Spielball unserer genetischen Ausstattung?

Mag sein, daß sich diese und viele ähnliche erstaunliche Ubereinstimmungen bei anderen Paaren einmal als Bluff herausstellen. Derzeit weist jedoch nichts darauf hin. Denn Jack und Oskar, ebenso wie die anderen Zwillinge, wurden auch eingehenden Untersuchungen vielfältigster Art unterzogen: Da wurden medizinische Werte wie Blutdruck, Gehirnströme, Herztätigkeit, Anfälligkeit für Allergien usw... erfaßt. In psychologischen Tests galt es, 15.000 Fragen zu beantworten. Tonbandaufnahmen (zur Untersuchung von Stimmklang und Ausdrucksweise) und Videofilme (zum Vergleich von Mimik und Gestik) wurden angefertigt. Und all das wird mittels Computer ausgewertet.

Insgesamt 100 eineiige (EZ) und 50 zweieiige (ZZ) getrennt aufgewachsene Paare sollen untersucht werden, bevor endgültige Aussagen gemacht werden. Derzeit ist man etwa bei der Hälfte dieser Zahlen. Daher sind die vorläufigen Aussagen schon recht gut abgesichert.

Wozu der ganze Aufwand? EZ haben absolut dieselbe Erbmasse, entstammen sie doch demselben Ei, das sich erst nach der Befruchtung geteilt hat. Weil sie aber getrennt aufgewachsen sind, sind sie unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt gewesen. Was man daher an ihnen an Ähnlichkeiten beobachtet, kann mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf den Einfluß der Erbmasse - die ja identisch ist - zurückgeführt werden.

Nun, besonders ausgeprägt sind die körperlichen Ähnlichkeiten: Größe, Gewicht, Stimme, Lächeln, Körper- und Handhaltung, Fingerabdruck... Die Vergleichswerte bei ZZ liegen deutlich niedriger, wie erwartet.

Groß ist die Ubereinstimmung auch bei musischen und sportlichen Talenten. Besonders bemerkenswert jedoch ist der Gleich-

klang der Ergebnisse bei Intelligenzmessungen: Die entsprechende Korrelation (Maß der Ubereinstimmung, das Werte zwischen 0 (keine Ähnlichkeit) und eins (idente Ergebnisse) annimmt) liegt bei 0,86. Intelligenz scheint somit in hohem Maße vererbt zu sein. Auch diesbezüglich ist die Ubereinstimmung bei ZZ, selbst wenn sie zusammen aufgewachsen sind, um einiges niedriger.

All das ließe man sich ja eventuell noch einreden. Aber daß sich das Verhalten der Paare so ähnlich sein soll, das will dem auf Prägung eingeschworenen Zeitgenossen nur schwer eingehen! Und dennoch gibt es da auch Tests, die das zahlenmäßig belegen.

Auffallend hoch ist die Ubereinstimmung bei Konservativität, Aggressivität, Autorität, Konzentrationsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Bemerkenswert auch die Ähnlichkeit bei neurotischen Tendenzen: „Erscheinungen, wie leichte Depressionen oder Phobien (Ängste), von denen ich niemals angenommen hätte, daß sie irgendwie besonders genetisch bestimmt seien“, zeigt sich Leonard Heston, Psychiatrie-Experte des Teams, überrascht.

Selbst die Gesundheitsgeschichte verläuft bei vielen Paaren ähnlich. Mehrfach stellte sich heraus, daß getrennt lebende EZ etwa zur selben Zeit Gewichtsveränderungen erlebten.

Ja, wo bleibt da noch die menschliche Freiheit? ist man nach alldem versucht, entsetzt zu fragen. Ist wirklich alles genetisch vorprogrammiert?

Durchaus nicht. Es bleibt ein riesiger Freiraum für die individuelle Entwicklung. Das zeigen auch nicht zuletzt die Beobachtungen des Projekts in Minnesota: Gering ist etwa die Ubereinstimmung bei Rauch- und Trinkgewohnheiten, bei der Handschrift. Kein Zusammenhang besteht bei Kontaktbereitschaft oder Anfälligkeit für Mißtrauen, Merkmale die bei zusammenlebenden EZ recht ähnlich ausfallen.

Keine Sorge also: Es bleibt Raum für Erziehung, wie wir ja seit Menschengedenken wissen.

Was elterlicher Einfluß vermag, erkennt man an einem der Paare; eine von beiden war Konzertpianistin, die andere konnte keine Note lesen. Letztere war dabei sogar bei einer Adoptivmutter aufgewachsen, die selbst Klavierstunden gab, die Tochter aber nicht zum Spielen zwingen wollte. Die Pianistin hingegen war von ihrer Adoptivmutter unter starkem Druck zum Klavierspiel angehalten worden. Die Begabung beider war offenbar weder genial „ä la Mozart“ (sonst hätte sie sich bei beiden durchgesetzt) noch unterdurchschnittlich (sonst wäre die eine nicht Pianistin geworden). Diese Begabung stellte offensichtlich „ein untergeordnetes genetisches .Nebenthema' dar“, wie Bouchard resümiert.

Welche Schlußfolgerungen zieht er, der als überzeugter Milieutheoretiker an das Projekt herangegangen war und der seine Ansicht ändern mußte? „Wir schätzen, so paradox das klingt, den Einfluß der Gene auf das Verhalten höher ein als zuvor und empfinden gleichzeitig auch mehr Respekt vor der prägenden Kraft der Umwelt.“

Kein Grabenkrieg also zwischen Milieutheoretikern und Vererbungsfanatikern, sondern eine differenzierte Sicht: Beides, Erbe und Umwelt, wirkt auf die Persönlichkeitsentwicklung. Wie das genau vor sich geht, wird nie ganz zu klären sein. Wozu auch?

Genau wissen wollen das ohnedies nur jene, die andere Menschen gezielt beeinflussen, also über sie Macht ausüben möchten.

Was bringt das Projekt somit an Einsicht? Es rückt manches ins Lot. Wir erkennen, daß der Mensch weder ein genetisch codiertes Computerprogramm noch eine Marionette seiner Lebensbedingungen ist. Eigentlich wußten wir das schon längst. Der moderne Mensch glaubt aber auch das an sich Selbstverständliche nur mehr, wenn man es ihm in der Sprache der Wissenschaft sagt.

Darum fällt es ihm auch so schwer zu erkennen, daß außer von Erbe und Umwelt unsere Entwicklung auch noch von unserem freien Willen und dem Wirken Gottes gelenkt wird. Und das eigentlich Entscheidende ist, was unser freier Wille aus Anlage und äußerer Prägung (und trotz dieser Gegebenheiten) macht.

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