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Dilemma nach geprobtem Aufstand

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Das beliebteste „Münchner Kindl", Hans-Jochen Vogel, hat seinen Rücktritt bekanntgegeben. Bereits im Alter von 34 Jahren zum Oberbürgermeister der „Weltstadt mit Herz" aufgestiegen und nach seiner ersten Amtsperiode 1966 in direkter Wahl mit 78 Prozent aller Stimmen überwältigend bestätigt, setzte der wohl populärste deutsche Stadtherr mit der Verzichtserklärung für seine bereits als sicher angenommene Wiederwahl 1972 Akzente von bundesweiter, wahrscheinlich sogar internationaler Bedeutung. Daran ämdept auch Bunideskanzler Brandits Erklärung, daß eben „in Bayern die Uhren anders als anderswo gehen", nicht mehr als der Versuch des stellvertretenden Parteivorsitzenden Herbert Wehner, die stark divergierenden und mitunter, wie jetzt in Bayern, hart aufeinanderprallenden Kräfte innerhalb der SPD bei der 1959 gezimmerten Bad Godesberger Parteistange zu halten. Fast ein Viertel der 780.000 sozialdemokratischen Parteimitglieder werden den Jungsozialisten (Jusos) zugerechnet, denen im Praktionsdeutsch die Rolle einer „Arbeitsgemeinschaft" zukommt, die jedoch in München laut Vogel die „faktische Umwandlung In eine Partei" innerhalb der Regierungsfraktion bereits vollzogen haben. Dem Mann des Münchner Volkes, der nach seinen Worten seit Mai 1970 innerhalb der Münchner Partei gekämpft habe, blieb als letzter Ausweg die Resignation, da’ „Kälte und Haßgefühle die Szene beherrschten", sowie der Nachruf seiner zu radikalen Reformen ten-diesrenden Genossen,, er hätte einsame Entschlüsse" gefaßt. Die Reaktionen in Bevölkerung und Presse nahmen beträchtliche Ausmaße an. Morddrohungen gegen die beiden Hauptbeteiligten der Münchner SPD-Affäre, Vogel und Meyer, bildeten ebenso die Auf macher deutscher Zeitungen wie Kommentare führender Politiker zu diesem Ereignis, das für CSU-Chef Franz Josef Strauß „nicht überraschend" kam, während Verkehrsminister und SPD-Parteipräsidiumsmitglied Georg Leber schnaubte: „Wer mit Kommunisten paktiert und damit gegen Parteibeschlüsse verstößt, fliegt aus der SPD ‘raus!"

Damit hat der Verkehrsminister den Kern des Problems, die innere Zerrissenheit der deutschen Regierungspartei, getroffen. Die Jusos, denen das Parteibekenntnis von Godesberg verstaubt und zu wenig progressiv erscheint, haben erstmals mit Erfolg den Aufstand geprobt und das Dilemma der ehemaligen Arbeiterfraktion, die den Weg von der Klassen- zur Massenpartei einschlug, der sie schrittweise der „Mitte" nahebrachte, enthüllt. Gerade die Jugend in der SPD fühlt ihre geistige Heimat verraten und will das ihrer Ansicht nach vom Partei-Establishment preisgegebene Gedankengut einer radikalen Vermögensumverteilung, einer einschneidenden Neuordnung des Bodenrechts, einer Fusionskontroll«, die malt Brandits umd Schillers Bekenntnissen zur „Sozialen Marktwirtschaft" nur noch wenig gemeinsam haben, wie die an Marx erinnernden geforderten konflskato-ri sehen Erbschaftssteuern und weitreichenden VerstaatlichunesDläne, restaurieren und realisieren. Der geschickte Taktiker Herbert Wehner — laut einer Jusg-Stimme aus der

Bundestagsfraktion der „einzige Linke in der Baracke" — scheint der einzige proülierde Pairteiexpo-nent zu sein, dessen Stimme im Lager der „Jungfalken" Beachtung und Gehör findet. Hingegen steht der andere stellvertretende Parteivorsitzende, Verteidigungsminister Helmut Schmidt — von den Allensbacher Demoskopen zum beliebtesten deutschen Politiker des Jahres 1970 (vor Brandt, Leber. Scheel, Schröder, Kiesinger und Schiller) erfragt — nicht nur wegen seiner Aufforderung, daß sich „der SPD-Par-tedrat eindeutig gegenüber Anairchä-sten, Leninisten, Trotzkisten und parteitreuen Kommunisten abgrenzen muß", sondern auch persönlich in scharfem Gegensatz zum Juso-Führer Karsten Vodgt.

Über die Grenzen der deutschen Bundesrepublik hinaus drängt sich ein interessanter Vergleich zur Entwicklung der schwedischen Sozialdemokratie auf, in der vor zwei Jahren der vielgepriesene Vertreter der jungen Generation, Olof Palme, voller Reformfreudigkeit ans Werk ging und in der Zwischenzeit vom Sockel des beliebtesten PoUtikers in P’ Wahlniederlage schlitterte. Von seinem Vorgänger Tage Erlander erhielt er noch die Mahnung mit auf den harten Weg, „als Ministerpräsident nicht nur für etwas mehr als 50 Prozent der Bevölkerung" zu agieren, von den Wählern erhielt er im September 1970 nur noch 45,5 Prozent der Stimmen. Ein natürlicher Verschleiß innerhalb so kurzer Frist oder der Beweis, daß es wesentlich einfacher ist, in der, Rolle eines parteiinternen Oppositionsführers als Verfechter großangekündigter Reformen Ruhm zu sammeln, der dann notwendigerweise verblassen muß, wenn die politische Realität Überwindung von Widerständen und vor allem das Herbeischaffen der meist gigantischen Summen, die den Sohrittt von d«r Idiee zur Tait begleiten, erfordert?

Gehen nun in Österreich die Uhren für Kreisky anders? Noch hat es den Anschein, daß der Bundeskanzler» dem die Bewältigung des Pfades von einem Reformer der eigenen Partei zum Staatsreformer — wenn auch wesentlich geringeren Kalibers, als es etwa den deutschen Jvsos vorschwebt — gelungen zu sein scheint. Der Chef einer Minderheitsregierung profitiert, ebenso wie auch die Etablierten an der Spitze der anderen Parteien, von der Farblosigkeit jenes geringen Teils einer politisch engagierten Jugend; zweifellos das kleiniere Übel, wenn man die Wahl hat zwischen Radikalinsikais, wie sie in anderen Staaten politische Akzente ziu setzen vermögen, und Disengagierten, die über die Rolle der Mitläufer imd Jasager kaum hinauszuwachsen vermögen. Wünschenswert wäre auch hier ein goldener Mittelweg.

Doch auch Kreisky wird noch vor das Problem gestellt, daß eine Art der Politik für aUe Österreicher die Möglichkeiten einer Parted oder eines Teams überfordert; daß Siituatianen entstehen können, in denen geschicktes Taktieren und Lavieren nicht mehr ausreichen, sondern in denen es eindeutig Farbe zu bekennen gilt, was dann naturgemäß aus einer schweigenden Meiirheit leicht eine schjreiendie Minderheit entstehen läßt

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