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Diplomatische Umweltverschmutzung

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Dramatische Verhaftung, theatralische Entlarvung und Ausweisung namhafter Sowjetdiplomaten durch gelbe Kommunisten ist zur Alltäglichkeit geworden. Die Chinesen beschuldigen die Russen, ihre Pekinger Diplomaten hätten nicht nur einen Spionagering aufgebaut, sondern auch später aktive Ausspähung betrieben. Obendrein sollen Chinesen aus der UdSSR nach China etageschleust worden sein. Namentlich wurde als Paradeagent der Russen ein Li Humg-shu angeführt, der von chinesischen Eltern abstammen soll, die nach der russischen Machtübernahme in Sibirien geblieben sind.

Die Außenwelt weiß wenig von dieser chinesischen Minderheit in Sibirien. Es 'ist auch nicht leicht, exakte Statistiken über diese Volksgruppe zu ermitteln. Die Sowjetsta-tistüker registrieren nämlich die Chinesen als Quantite negligeable unter dem Sammelbegriff „andere Nationalitäten“. Das authentische Sowjetjahrbuch vom Jahre 1972, Narodnoe Khozyaistwo SSSR, beschäftigt sich drei Seiten lang mit den Nationalitäten, nimmt aber die Existenz der Chinesen nicht zur Kenntnis. Dennoch ist es eine Tatsache, daß sowohl im asiatischen als auch im europäischen Teil der Sowjetunion Chinesen leben.

In Peking verfolgt man natürlich das Schicksal der Sowjetcbinesen aufmerksam. Am Neujahrstag oder an großen Volksfeiertagen beschäftigt man sich eingehend mit ihnen und widmet den „patriotischen chinesischen Mitbürgern im Ausland“, vor allem in der UdSSR, Aufrufe und Gedenkminuten.

Mitglieder der chinesischen Minderheit in der Sowjetunion müssen Militärdienst leisten wie alle anderen Minderheiten auch. Unter den gegebenen Umständen- ist es kaum verwunderlich, daß der sowjetische Nachrichtendienst unter ihnen geeignete Kundschafter sucht, gehört doch die Chinesische Volksrepublik zu den Hauptoperationsgebieten sowjetischer Spionage. ;

Es ist nicht ausgeschlossen, daß Genosse Li Hung-shu zu den wenigen gelben Kommunisten gehörte, die Anfang der sechziger Jahre, als der große Bruch entstand, die gelbe Unfreiheit mit der roten vertauscht haben. Tatsächlich existiert in der UdSSR eine kleine antimaoistische Gruppe, die aus entflohenen oder abgesprungenen Chinesen gebildet wurde. Ihr Doyen ist Wang Ming, der schon in den dreißiger Jahren eine prominente Rolle in der internationalen kommunistischen Bewegung gespielt hat. Wang Ming war auch Mitglied des 8. Zentralkomitees, das 1956 „gewählt“ wurde.

Die Entlarvung des Li Hung-shu führte zur Ausweisung von Sowjetbürgern, darunter des Ersten und Dritten Sekretärs der Pekinger Sowjetbotschaft. Interessanter noch ist, daß das chinesische Au ßen ministerium mit einer Reihe von Formulierungen drohte, die nicht mehr als Routinephrasen bezeichnet werden können

Die chinesische Note betont, daß es sich hier nicht nur um die übliche und gewöhnliche Spionage gehandelt habe, sondern um die Gründung konterrevolutionärer Organisationen. Die Sowjetbotschaft sei das Zentrum solcher Aktivitäten gewesen. Anscheinend glauben die chinesischen Behörden, mit solchen Behauptungen die Volkswut gegen Moskau nach Belieben anheizen zu können.

Abgesehen von „normalen diplomatischen Gegenzügen“ könnten die Russen das Personal ihrer Botschaft in Peking reduzieren oder auch die Delegation abbauen, die seit Jahren vergeblich über chinesisch-russische Grenzzwischenfälle in China verhandelt, oder deren Leiter, den Stellvertretenden Außenminister Iljitschew abberufen. Der Kreml hat schon lange kein Interesse mehr an der Fortführung der Grenzgespräche. Jetzt könnte er die günstige Gelegenheit wahrnehmen und die Delegation abberufen, sub titulo „Gefährdung des Personals“.

Das chinesische Spionagegeschrei ist zwar nur als Episode zu bewerten, doch ist es charakteristisch für die fortschreitende russisch-chinesische Verfeindung. Die Zahl der gegenseitigen Bezichtigungen wächst und ruft eine zunehmende „diplomatische Umweltverschmutzung“ hervor.

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