6951255-1984_13_09.jpg
Digital In Arbeit

Disput über das Wunder

Werbung
Werbung
Werbung

Uber den Begriff „Entelechie" waren wir einander in die Haare geraten, aber nicht maligne wie Kampf hähne, sondern akademisch, enharmonisch: mein Freund, hochaufgeschossen, augenumschattet, weltoffen, katholisch, und ich, auch nicht gerade ein Agnostiker. Ich wollte unter Entelechie das Wirkende verste-

hen, vergleichbar dem Autostar-ter, der den Motor anwirft. Wohingegen mein Freund in ihr die Seele schlechthin sehen wollte und daraus etwas wie einen Gottesbeweis abzuleiten versuchte. Was braucht es denn einen solchen, meinte ich, man muß doch bloß aus dem Fenster schauen, um im Blühen und Vergehen, in der Statik, im Funktionieren menschlicher Bewegung schon genug Beweis für etwas zu haben, was ohnehin so wenig beweisbar ist wie seine Nichtexistenz. Und den Unbelehrbaren könnten ja Wunder auf die Beine helfen, wenn sie auch recht selten geworden seien, und sich vieles, das unseren Vor-

vätern noch ein Wunder gewesen wäre, nüchtern erklären läßt.

Denn doch gibt es Wunder, sagte mein Freund, ich erzähle Ihnen gleich eines, das ich erlebt habe, Sie müssen's freilich nicht ein Wunder nennen. Ich stritt neulich mit meinem mißratenen Stiefsohn über kirchliche Fragen, er leugnete jeden Glauben und bemühte sich wie ein Reformator, mich von seinem besseren Wissen zu überzeugen. Als mir die Sache zu dumm wurde, sagte ich, lieber Ruprecht, ich bleibe meiner Lehre von Glaube, Liebe und Hoffnung, auch wenn dir die Herabkunft Christi und die Auferstehung unlogisch und absurd erscheinen. Mich wirst du nicht überzeugen. Und dann gingen wir verdrossen schweigend weiter; aber nicht sehr weit. Denn gewohnt, den Blick auf den Boden zu heften, sah ich zwischen zwei Steinen etwas blinken.

Es traf mich wie ein Schlag aufs Herz; dann dächte ich: was soll mir das glitzernde Papierchen?

Und bückte mich doch. Es war aber kein Goldpapier, sondern, ob Sie's glauben oder nicht, es war ein kleiner goldener Anhänger, bestehend aus den Symbolen für Glauben, Liebe und Hoffnung, der da zwischen den Steinen lag. Die Wahrheit kann ich beschwören. Ob es ein Zeichen für mich hartnäckig Gläubigen war, oder ein Dank, oder eben der bekannte Zufall, das mögen Sie entscheiden. Für mich war's ein Wunder.

Ich antwortete ihm, ich hätte bei Anatole France die Worte gefunden: „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht mit Namen unterschreiben will." Und ich hätte selbst einmal einen ähnlichen Fall - Zufall - erlebt, einen Riesenzufall, wenn jener Ruprecht wolle, aber na ... Ich hatte meiner Frau in einem Landgasthaus meiner Heimat das Bild des früheren Wirtes an der Wand gezeigt, der ein braver Mann gewesen war, und, das wolle ich eigens erwähnen, mir mitten im Krieg eine damals sehr kostbare Wurst zuge-

steckt hatte, als ich einrücken mußte. Als wir Wochen später nach Wien zurückkamen und ich wieder einmal die Kirche meiner Wahl aufsuchte, wurde ich in fast erschreckender Weise an den Wirt erinnert. Es lag da nämlich vor mir auf dem Reihenpult eines jener Totengedenkblättchen, die von den Angehörigen nach dem Tod lieber Personen mit einem Bild des Verstorbenen und einem frommen Zitat an Verwandte ausgeschickt werden. Was da unvermittelt und mehr als überraschend vor mir lag, war ein Gedenkblatt für den Wirt, der, dreihundert Kilometer entfernt,-vor vierzig Jahren verstorben war.

Wie das rational zu erklären ist, weiß ich nicht, sagte ich zu meinem Freund. Aber Sie werden verstehen, wie mich das getroffen hat. Sie werden mir auch glauben, daß es so war, während die meisten meiner Mitbürger, denen ich's erzähle, nur mitleidig lächeln. Worauf sie wieder meines Mitleids sicher sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung