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Dissidenten sind keine!

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„Strukturen inn Umbruch" lautete das heurige Jahresthema in Alpbach. Kenner der Situation hinter dem Eisernen Vorhang räumten mit Vorurteilen des Westens auf. Wir zitieren aus ihren Vorträgen.

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„Strukturen inn Umbruch" lautete das heurige Jahresthema in Alpbach. Kenner der Situation hinter dem Eisernen Vorhang räumten mit Vorurteilen des Westens auf. Wir zitieren aus ihren Vorträgen.

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Um die Dinge einfach und übersichtlich zu haben, teilte man Europa in West und Ost, und da die geographische Trennung noch nicht ausreichte, akzeptierte man hier genau wie „drüben" auch die ideologische Trennungslinie, die, wie man uns erzählt, genau an der allgemein bekannten Stacheldrahtgrenze verläuft. Alles, was hinter Stacheldraht und Minenfeldern liegt, ist von hier aus betrachtet der Osten, also für einen Westier das unheimliche Land, fast schon Asien.

Einige Beispiele sollen diese Vorstellung zerstören: Wenn ein Bürger aus Warschau in die Deutsche Demokratische Republik reist, zeigt sein Kompaß westwärts, doch, ideologisch betrachtet, bewegt er sich eigentlich ostwärts, denn, wie bekannt, liegt ja Ost-Berlin viel näher bei Moskau als bei Warschau. Und wenn ein Bürger der DDR nach Polen fährt, bewegt er sich nach der Landkarte ostwärts, in Warschau angekommen, spürt er jedoch ganz

deutlich, daß er in entgegengesetzte Richtung reiste.

Für die Tschechen und Slowaken ist die Orientierung noch schwieriger: Der Westen liegt für sie einmal im Süden, also in Österreich, einmal im Norden, also in Polen. Der Osten, aus Prag betrachtet, liegt einmal in nördlicher Richtung, also an den Grenzen zur DDR, und ein andermal tatsächlich im Osten, an der Grenze zur Sowjetunion.

Es kommt noch schlimmer. Ich will nämlich Prag zum Herzen von Europa erklären. Leider ist es ein Herz, das permanent an europäischen Infarkten leidet und oft zu grausame ideologische Pferdekuren über sich ergehen lassen mußte. Es ist also verständlich, wenn so ein Herz, seit mehr als einem Jahrtausend von zahlreichen Kollapsen gepeinigt, immer wieder nach starken Verbündeten und vor allem nach Beschützern Ausschau hielt…

Genau wie im Fall des Begriffes „West-Ost" muß ich mit dem Begriff „Dissident" auf eine für manche erschreckend unwissenschaftliche Art und Weise umgehen, um ihn, also den Dissidenten im Osten, einigermaßen ins richtige Licht zu stellen.

Im Originaltext folgt hier eine genaue Darstellung der historischen Entwicklung des „realen Sozialismus" in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten.

Tatsächlich hat die Erschöpfung der Ideologie, ihre Resignation, ihre Müdigkeit, den Menschen, die wir hier immer noch als Dissidenten betrachten, einen breiteren Raum eröffnet, sich zu artikulieren. Das Denken der Andersdenkenden wird in den östlichen Volksdemokratien zum Phänomen, mit welchem die ermüdeten Herrscher und Ideologen nichts anzufangen verstehen.

Die Andersdenkenden sind heute für ein kommunistisches System deswegen so gefährlich, weil sie, also vereinfacht gesagt, die „Dissidenten", eine Alternativbewegung darstellen, die für die Zukunft neue Konzeptionen entwik-kelt, also alles das tut, wozu die Marxisten längst nicht mehr fähig sind. Diese resignierten und haben - mit der realen Situation konfrontiert - eingesehen, daß der Kampf um diese Welt mit ideologischen Mitteln nicht mehr zu gewinnen ist.

Ihre ideologische Glaubwürdigkeit haben sie verloren und aufgegeben, ihren Anspruch auf die Eroberung der restlichen Welt jedoch nie. Die stille Resignation der marxistischen Ideologie sollte uns aber nicht zu sehr befriedigen oder beruhigen, ihre einst aggressive Propaganda schlug jetzt in eine viel gefährlichere Aggressivität um. Das bekommen wir in aller Welt zu spüren.

Zurück zu den „Dissidenten". Ihr großer Vorteil liegt darin, daß sie zum System, das sie unterdrückt, alternative Bewegungen entwickeln können. Sie sind also in keinem Fall als „Abweichler" zu betrachten, sondern als Gruppen, vom totalitären System an die Peripherie der Gesellschaft gedrängt, die ihre eigenen Parallelstrukturen entwickeln, also sich im Prinzip normal wie jede funktionierende Gesellschaft auch im Untergrund verhalten. Sie sind heute die politische Kraft, die für die Zukunft am besten vorbereitet ist - unvergleichlich besser als die offiziellen

Machthaber, die die Zukunft schon abgeschrieben haben und sich mit dem real Erreichten zufrieden geben.

Das polnische Beispiel ist für uns heute überzeugend. Plötzlich haben wir es in Polen mit einem Phänomen zu tun, welches wir im Westen nicht mehr kennen: mit dem klassenbewußten Proletarier, der für seine Rechte kämpft und „nichts als seine Ketten" zu verlieren hat. Der alte Marx hat doch recht gehabt, als er den Proletarier so ungefähr definierte.

Die zeitgenössischen Marxisten müssen jedoch vor dem polnischen Proletarier ein schieres Entsetzen empfinden, denn der polnische Arbeiter verhält sich zwar genauso, wie es von ihm einst Marx verlangte, hat jedoch einen „Schönheitsfehler", der die restlichen marxistischen Ideologen noch mehr verunsichert: der polnische Arbeiter organisierte sich zum Kampf für mehr Freiheit, aber nicht unter dem Vorzeichen einer marxistischen oder reformmarxistischen Ideologie. Noch schrecklicher: Die polnische Arbeiterbewegung hat eine Art von leninistischer Kaderpartei gar nicht nötig, sie stellte an ihre Spitze nicht einen Reformmarxisten, sondern endlich einen Arbeiter, Lech Walesa…

Interessant: Man spricht und schreibt im Westen immer noch über Dissidenten, meidet aber diese Bezeichnung immer dann, wenn es um Polen geht. Die westlichen Journalisten und alle, die sich mit Polen beschäftigen, spüren ganz deutlich, daß die Bezeichnung „Dissident" für Polen nicht zutrifft. Vielleicht breitet sich dieses Unbehagen auch in andere Gegenden des Ostens aus, zum Beispiel bis nach Prag, wo sich die sogenannten Dissidenten überhaupt nicht als „dissident" sehen wollen, sondern nur als das, was sie tatsächlich sind: Menschen, die in allen Bereichen des Lebens in einem totalitären Staat Konzeptionen für die Zukunft Entwickeln…

Die Geschichte spielte dem verbissenen Marxisten sowjetischer Abart einen bösen Streich: Jetzt müssen sie vor dem Fortschritt, der sich nicht aufhalten läßt, zittern, sich mit noch mehr Raketen und Panzern umgeben, sich hinter noch höheren Mauern isolieren. Es klingt absurd, aber es stimmt: Als gefährliche Abweichler, also reaktionäre Dissidenten, sind sie heute als nicht mehr fähige Verfechter einer geistigen Bewegung eines verkümmerten realen Sozialismus zu betrachten.

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