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Es ist soweit: am 29. Juli werden genau 100 Jahre vergangen sein, seit Vincent van Oogh starb. „Die" Inszenierung zu diesem Anlaß geht (daher) auch an diesem Tag zu Ende. Die Rede ist von der größten aller monographischen Ausstellungen, die van Oogh je gewidmet worden sind. Jene konzertierte Aktion in Amsterdam und Otterlo, bestens vorbereitet, reich bestückt, perfekt gemanagt (zum Wohl der Werke wie der Besucher) und selbstverständlich auch hervorragend vermarktet (was vommarktwirtschaft-

liehen Standpunkt aus besehen auch eine Notwendigkeit darstellt). Stellt man sich die Frage nach dem Stoff, aus dem ein derartiges Großereignis gemacht ist, so wird dieser als ein Gewebe aus viererlei Fäden erkennbar.

Den einen Faden liefert die Kunstgeschichte: innerhalb eines einzigen Jahrzehnts entstand nicht nur ein sehr reiches Oeuvre, sondern auch eines, das wesentliche Entwicklungen der Malerei des 19. Jahrhunderts umspannt, in zusammengedrängter und intensiver Weise durchläuft und weit darüber hinausweist. Naturalismus und Realismus in der illusionistischen Wiedergabe der sichtbaren Wirkli; hkeit hatten im μnpressionismus e???? 1iöchstrnöglic????????S" l\!????ß e????eicht.' ????

1iöchstrnöglic????????S" l\!????ß e????eicht.' ???? Äls van Gogh Ende 1 885 nach Paris kam, hatte diese Entwicklung ihren Höhepunkt bereits überschritten.

usprägung werden die kardinalen Probleme der Farbe, der malerischen Form im kleinen wie im großen, des Bildes als Flächengebilde, des Materialcharakters der Farbe umkreist, diskutiert, gelöst. Gleichsam wie gleißende Kumuluswolken mit dem Zeitraffer gefilmt

finden sich in van Goghs Malerei der nächsten viereinhalb Jahre intellektuelle Klarheit in der theoretischen Auseinandersetzung und lodernde Bewegtheit in der Ausdrucksform in beispielloser Intensität verbunden.

Die hohe Qualität dieser Malerei wird zunächst nur von Künstlern erkannt und propagiert (dank einer Widmung der Künstler der Wiener Seeession ist die Modeme Galerie in Wien bei ihrer Eröffnung 1903 eine der ersten öffentlichen Sammlungen, die ein Werk van Ooghs besitzen!), private Sammler und wissenschaftliche Forschung holen relativ bald auf. 1 9 1 1 erscheint die erste wissenschaftliche Monographie, im gleichen Jahr werden bereits Briefe van Goghs (an Emile Bernard) ediert, 1928 wird der grundlegende vierhändige Oeuvrekatalog publiziert, 1952-1954 dann alle auffindbaren Briefe des Malers. Die Literatur ist Legion. Die auf diesem reichhaltigen Material basierenden beiden letzten großen Ausstellungen in New York 1984 und 1986/87 haben kunstwissenschaftlich jeden Winkel der Kunst van Goghs ausgeleuchtet.

Den zweiten Faden im Gewebe liefert die Künstlergeschichte: eine derart bewegte, tragische und vor allem so bis ins Detail bekannte Lebensgeschichte ist interessant, sensationell und zu Herzen gehend (vor allem nach dem Tod des Künstlers),. ·Ab de???? zwanziger Jahren erscheinen viele Untersuchungen mit Titeln wie „Van Gogh in der Krankheit" , „Van Gogh und die Psychiatrie" oder auch einfach „La vie tragique de Vincent van Gogh", etc. Mittlerweile sind auch zwei Filme über das Leben des Malers entstanden.

Wir dürfen Identifikation und Empathie entwickeln. Wissenschaftliches Interesse, Voyeurismus und eine Art posthumer Vivisektion finden sich auf innigste ver-

eint. Mit der Malerei van Goghs hat all dies allerdings wenig bis gar nichts zu tun, es sei denn, man sieht sie als lliustration einer Pathographie.

Der dritte Faden entwickelt sich aus dem Umgang mit Kunst und Künstlern - das heißt in zunehmendem Maße Brauchbarkeit und Nutzbarmachung von Kunst und Künstlern: Das Kalendarium der Kulturpolitik reiht Ereignisse in lückenloser Folge aneinander, der Aktivitätspegel der Veranstalter und jener des Ausstellungstourismus versuchen einander zu übertreffen, der Wettstreit wird selbstgenügsam. Das gilt für Jubiläen toter Giganten (allein heuer unter anderem Tizian ,Vincent van Gogh, Egon Schiele) genauso wie beispielsweise für jährliche Landesaustellungen.

Es gilt für die Filmindustrie (z:B. Michelangelo, Caravaggio, Toulou-" se-Lautrec, van Gogh) genauso wie für die Bildbandproduktion, die Aschenbecher-, Seidentücher- und Tapetenindustrie. Keiner von uns kann sich dem entziehen, auch wenn der Bildungsauftrag der Museen und die Idee von der technischen ????eproduzierbarkeit des Kunstwerkes vom Ansatz her edel sein mögen. Als Wissenschaftler hier kulturpolitisch verantwortungsbewußt handeln, heißt soviel wie während

Gratwanderung auf Eiern zu tanzen. Der noch fehlende vierte Faden ist der einzige seit je vorhandene und zugleich der am wenigsten erforschte: Es ist die Geschichte des Kunstbetrachters. Auch bezüglich der Kunst van Goghs heißt das: Was sieht der Betrachter wirklich? lliustrationen einer erzählten Seelendokumentation? · Den kunsthistorischen Stellenwert bestimmter Problemlösungen im Bereich der malerischen Form?

Oder ist der Ausstellungsbesuch das eigentliche Erlebnis und die Bilder auswechselbar? Warum gehören van Goghs Sonnenblumen zu den weltweit beliebtesten Reproduktionen? Was geht zwischen den Sonnenolumen und demjenigen, -der die Reproduktion kau????t. , vol'? Und 'SO fort.

Dieser Vierte Faden ist der, welcher das Gewebe bedingt und zusammenhält. Seine Erforschung ist notwe????dig und spannend, das Ergebnis ebenso wichtig wie von vorneherein klar: das, worauf es wirklich ankommt, läßt sich.verbal gar nicht verbindlich ausdrücken. Aber um bewußt dahin zu gelangen, bedarf es der Zeit--und der Stille. Beides ist derzeit nicht in Mode.

Die Autorin ist Kustodin der Graphischen SammllJng Albertina in Wien.

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