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Dollfuß ohne Reizvokabel

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Das hat ja kommen müssen: Eine Dollfuß-Büste, die im Zug einer Denkmalrenovierung in Wien abgebaut worden ist, soll auf Grund sozialdemokratischer Einsprüche überhaupt nicht mehr, nach Wunsch des ÖVP-Obmanns Erhard Busek wenigstens in Dollfuß' Heimatgemeinde Texing in Niederösterreich aufgestellt werden, aber auch manche ÖVP-Anhänger haben selbst gegen diese Version Bedenken. Das Unbehagen ist weit verbreitet: Wie verfährt man mit einem politischen Märtyrer, der gleichzeitig ein Verfassungsbrecher war? Oder anders gefragt: Ist Verfassungsbruch durch späteren Märtyrertod gesühnt? ,

Nadine Hauer hat in der jüngsten FURCHE einen sachlich belegten Versuch zu wissenschaftlicher Aufarbeitung der politischen Leistung des Engelbert Dollfuß, vor allem auch seiner Agrarpolitik, unternommen. Auch der einstige Bundeskanzler Josef Klaus, nach drei Operationen erfreulicherweise wieder auf dem Weg der Genesung, hat sich bei uns gemeldet und an seinen Dollfuß-Beitrag in dem 1985 erschienenen Styria-Band „Führung und Auftrag" erinnert. Als einziger überlebender ÖVP-Kanzler wollte er den 100. Dollfuß-Geburtstag nicht mit Schweigen vorüberziehen lassen.

Das erwähnte Buchkapitel enthält einen „bescheidenen Therapievorschlag" zur Überwindung der scheinbar unüberbrückbaren Kluft, die zwischen Christ- und sozialdemokratischen Dollfuß-Interpreten klafft. Wie wäre es, meint Klaus, wenn die einen damit aufhörten, von „Austro-" und „Klerikofaschismus", „Arbeitermörder" und „Diktator" zu sprechen, die anderen aber auch auf Reizwörter wie „Diktatur des Proletariats" oder die Pauschalunterstellung „Dollfuß-Mörder" verzichteten?

Was der Altbundeskanzler hier anregt, ist letztlich nichts anderes, als was Zeitgeschichtler, Politologen und Journalisten auch in diesen Tagen unter verschiedenen Vorzeichen forderten: eine differenzierende, der Komplexität der damaligen Zustände Rechnung tragende Beurteilung Dollfuß', aber auch seiner politischen Widersacher.

Unbestritten ist unter Wissenschaftlern, daß der autoritäre Ständestaat nicht mit Faschismus gleichzusetzen war, daß Dollfuß Schutzbundführer nicht aus Mordlust, sondern aus vermeintlicher Staatsräson hinrichten ließ, daß er damit aber nicht nur als Christ, sondern auch als Staatsmann ebenso tragisch irrte wie mit seinem Verfassungsbruch 1933/34, weil auch das Aussetzen von Wahlen den Nationalsozialismus nicht aufhalten konnte. Und daß Dollfuß fanatischer Österreich-Patriot war. Unbestritten sollte heute auch sein, daß das Bekenntnis zur „Diktatur des Proletariats" durch Österreichs Sozialdemokratie unverzeihliche Verbalradikalisierung, andererseits aber als letztes Mittel zur Sicherung politischer und sozialer Errungenschaften gegen eine allenfalls putschende Bourgeoisie gedacht gewesen war.

Josef Klaus' Anregung verdient es, ernstgenommen zu werden.

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