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Drehbühne im Rampenlicht

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„Eine Jury aus zehn Theaterkritikern zeichnet verantwortlich für die Auswahl der Inszenierungen, die zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen werden ... Auszuwählen sind nicht Stücke, die Jury fällt keine literarischen Entscheidungen. Es gilt auch nicht voneinander isolierte theatralische Einzelleistungen zu prämieren, ein Bühnenbild, eine Regie oder eine Rolle. Auszuwählen sind Aufführungen, und zwar solche, bei denen die vielfältigen Komponenten, die einen Theaterabend ausmachen, eine Verbindung eingegangen sind, die als Ganzes überzeugt...“ Wer an dieses ausschnittweise wiedergegebene Rechtfertigungsschreiben, dem Rezensenten vorsorglich in die Hand gegeben, kühnste Hoffnugen knüpfte, wurde zunächst arg enttäuscht.

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„Eine Jury aus zehn Theaterkritikern zeichnet verantwortlich für die Auswahl der Inszenierungen, die zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen werden ... Auszuwählen sind nicht Stücke, die Jury fällt keine literarischen Entscheidungen. Es gilt auch nicht voneinander isolierte theatralische Einzelleistungen zu prämieren, ein Bühnenbild, eine Regie oder eine Rolle. Auszuwählen sind Aufführungen, und zwar solche, bei denen die vielfältigen Komponenten, die einen Theaterabend ausmachen, eine Verbindung eingegangen sind, die als Ganzes überzeugt...“ Wer an dieses ausschnittweise wiedergegebene Rechtfertigungsschreiben, dem Rezensenten vorsorglich in die Hand gegeben, kühnste Hoffnugen knüpfte, wurde zunächst arg enttäuscht.

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Schuld daran war die Eröffnungsvorstellung der Münchner Kammerspiele mit Edward Albees „Alles vorbei“, dessen Text bei der New Yorker Uraufführung zu Recht durchfiel. — Wenn hinter einem Paravent im hochherrschaftlichen Salon der reiche unsichtbare Jedermann sich zum Sterben anschickt und davor auf massivem Ledersofa seine uralte Ehefrau, die verblühte Geliebte, eine hysterische Tochter und ein neurotischer Sohn schmutzige Familienwäsche waschen, wenn dabei im Grunde nur rüde Belanglosigkeiten und geschmacklose Monologe zelebriert werden, so erwartete man zumindest von einem Schauspieleraufgebot mit den Namen Mosheim, Nikiisch, Düringer, Lühr und Quest mehr als dieses zerfahrene Kammerkonzert einer High-Society. — Albee will zwar gestörte menschliche Beziehungen demonstrieren, läßt uns aber im Zweifel über deren Ursachen. August Everdings Regie kann als einzigen Pluspunkt die wohltuende Kürzung dieses Psychodramas für sich verbuchen.

Am nächsten Tag warteten die Gäste der Berliner Volksbühne mit Peter Palitzsch und dem Stuttgarter Staatstheater wieder einmal verzweifelt auf „Godot“. Zwar behauptet der Regisseur, daß bei seinen Schauspielern ein „echtes Bedürfnis“ vorlag, endlich einmal einen Beckect zu spielen, zwar ist er guten Glaubens, eine glasklare emotionsfreie und unmittelbare Inszenierung mit einer den Personen entsprechenden variierenden Geographie geboten zu haben, aber die strenge Konzentration auf den Eigengehalt des Textes verbreitete mehr Langeweile als beklommene Hoffnungslosigkeit, bewies einmal mehr die Überflüssigkeit von zu häufig strapazierten Interpretationen ohne eklatanten Tenorwechsel.

Erstes Aufhorchen gab es für Rainer Werner Faßbinder, der in Eigenregie seine „Bremer Freiheit“ aufführte, „bürgerliches Trauerspiel“, die Moritat über die angesehene Bremerin Gesche Gottfried, die um 1820 fünfzehn Menschen ihrer nächsten Umgebung vergiftete, weil sie ihrer Persönlichkeitsentfaltung im Wege standen, und die schließlich selbst hingerichtet wurde. Aus dieser historischen Tatsache konzipierte er eine wirkungsvolle Episodenreihung in naturalistischem Darstellungsstil, dem Wilfried Minks ein christliches Kreuz als Spielfläche unterlegte. In einem Meer von Blut versinkt biedermeierliches Mobiliar, treibt das Floß der jeweils zum Tode Verdammenten (Eltern, Ehemänner, Kinder, Freundinnen), wird flankiert von Bojen und lustigen Wimpeln, begleitet von fröhlichen Mö-ven, gemalt auf meerblauem Horizont. Margit Carstensen demonstriert mit beredter Gestik und überzeugender Aussagekraft Leidensweg und Zwangslage der um jeden Preis zur Emanzipation strebenden gedrückten Frau.

In letzter Minute — fast ein Opfer des Fluglotsenstreiks — hasteten die Zürcher Neumarkt-Schauspieler mit Handkes „Ritt über den Bodensee“ nach Berlin. Wenn auch freundlicher Beifall den Gästen dankte, so war doch ihr erstarrtes Spiel — ein Panoptikum marionettenhafter

Kahlköpfe im vollgestopften Plüschmobiliar — derart steril, waren die ohnedies sinnentleerten Floskeln des menschlichen Alltags so ungemein staubtrocken und streng serviert, daß diese Inszenierung die Vor Jahresarbeit der Berliner Schaubühne — jenes poetisch-verspielte, raffiniert-ästhetische Phantasiegebilde an Qualität bei weitem nicht erreichte.

Wer allerdings Ästhetik, Phantasie, Melos und Kammerton begehrte, fand dieses alles in JVoeltes zweiteiliger Strindberg-Bearbeitung, „Todestanz“ genannt und im Schloß' parktheater dargeboten. In einem Raum, der sich perspektivisch nach hinten verengt und Tiefe vortäuscht, auf grauen Wänden spiegeln sich im Gegenlicht wie Schattenrisse die Figuren, die in knappen Dialogen, gedankenvollen Pausen vollendetes Theater in Ton und Geste darbieten. In masochistischer Leidensgier, ohne ein lautes Wort, wartend auf ihre endgültige gegenseitige Vernichtung, exerzieren die Eltern eine Ehehölle, die in der nächsten Generation folgerichtig variiert wird. Elisabeth Rückert, Borchert und Minetti sind ein ideales Terzett im Strindbergschen Geschlechterkampf, dem sich die Kinder Helga Anders (borniert und frühreif) -und Marcel Werner (ein neurotischer Schwächling) zugesellen.

Im Gegensatz zu Noeltes müden russischen Fin-de-siecle-Tönen brachten die Baseler Bühnen in Jan Karcers Inszenierung eine neu übersetzte, robuste „Möve“ von Tsche~ chow, in der die Typen teils deftigrustikal über die Bühne polterten, teils herb und unsentimental wie im Falle Verena Buss—Peter Brogle ihren selbstgewählten Vernichtungsweg konsequent beschritten. In diesem schockierenden Konzept — weit entfernt von Tschechow, dennoch mit frappanter Geschlossenheit die vom Verfasser selbst betonte Komödie herausarbeitend — störten lediglich dramaturgische Akzentverschiebungen. Immerhin wehte ein frischer Wind selbst noch durch die haarscharf an der Klamotte vorbeirutschenden Arkädina-Trigorin-Szenen, die für H. C. Beckmann und Rosel Schäfer eine Nummer zu groß geraten waren.

Spontaner Szenenapplaus, als sich der Vorhang zu Wedekinds „Schloß Wetter stein“ hebt: In einem riesigen Marmormausoleum liegt ganz in Schwarz auf schwarz-silberner sarkophagartiger Ottomane ein alternder Vamp, um den sich die Männer duellieren und genüßlich ausrotten.

Z.U im en r uuen senwarze xrauer-kränze, zur Seite Samtportieren und Lebensbäume mit Goldfischteich, im Hintergrund ein bemalter Prospekt mit Wald und Märchenschloß. In dem genialen Makart-Kitsch Wilfried Minks' parodiert Arno Wüstenhöf er mit seinem hinreißenden Wup-pertaler Ensemble Wedekinds Panoptikum der Triebe, entlarvt er die doppelte Moral der feinen Gesellschaft, durchbricht er sexuelle Tabus. Ursprünglich als drei Einakter konzipiert, läuft hier unter neuem Titel eine Tragikomödie mit bewußter Flucht in die Phrase ab, deren Dialoge und Gestik vorbildlich ausbalanciert werden, eine makaber-gespenstisches Zerrbild von Typen, jugendstilistisch überpointiert in Sprache, Gestik und Bild; und darunter ertönt Mahlers schmelzendes Adagietto aus der 5. Symphonie, den Zuschauer noch bis zum Theaterfoyer verfolgend.

In einer Messehalle am Funkturm zeigt Peter Stein seinen „Peer Gynt“ als bombastische Show in zwei Teilen an zwei Abenden. Zuschauertribünen und rechteckige Arena bilden eine riesige Spielfläche — begrenzt einerseits von einem monströsen Erdhügel, anderseits vom wogenden „Meer“ —, die in ihrer Verwendbarkeit horizontal und vertikal keinen Wunsch offen läßt. Das „Gyntische Ich“, an jedem Abend von vier Darstellern in jeweils verwandeltem körperlichen und seelischen Reifestadium gespiegelt, tollt, kobolzt, rüpelt oder philosophiert und hadert sich durch Kontinente und Klimazonen. Von der Schneelandschaft bis zur Wüstenweite, vom Trollspuk bis zur makabren Irrenszene vor riesig aufragendem Sphinxhaupt, von der Schiffsexplosion bis zum Kampf auf kenterndem Segelboot wird dem staunenden Besuchern nichts vorenthalten: Wildschwein, Lipizzaner, Strauß und Affen — alle sind in Lebensgröße da!

Und die Schauspieler agieren artistisch und deklamieren mit einer Hingabe und Begeisterung, als gälte es, die Sterne vom Himmel zu holen. Dazu tönt eine illustrative, aufpeitschende Geräuschkulisse. Totales Theater! Wohl zur Zeit eine Einmaligkeit auf deutschen Bühnen, Ein Pauschallob allen Beteiligten.

Ganz am Rande sei noch die seit zweieinhalb Jahren laufende Sell-ner-Inszenierung vom „Leben Eduard II. von England“ im Schiller-Theater erwähnt. Die Brecht-Mar-Zoiüe'Fassung ist allerdings mehr ein Verdienst dieser Regie mit so glanzvollen Schauspielern wie Erich Schellow, Rolf Schult, Borchert, Henninger und Eva Katharina Schultz als das des sicheren Sze-nikers Bertholt Brecht, der holzschnittartig-kantig sein Moritaten-Bilderbuch aufblättert. Sellner nuanciert und modelliert vorsichtig zwielichtige Charaktere aus der starren Vorlage heraus und erreicht vor allem im Abhängigkeitsverhältnis Eduard-Gaveston mit Hilfe einer transparenten Sprache Plastizität und Überzeugungskraft.

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