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Drei Forderungen zur Reform der Fristenlösung

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Die Fristenlösung und nicht die zur Erlangung der erhöhten Geburtenbeihilfe vorgeschriebenen Pflichtuntersuchungen haben zu der merklichen Senkung der Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahren geführt, erklärte der Chef der Sem-melweisklinik der Gemeinde Wien, Primarius Dr. Rocken-schaub, in einem Interview. Die FURCHE befragte dazu den Vorstand der II. Univ.-Frauenklinik in Wien; das Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Hugo Husslein führte unser Mitarbeiter Karl Bier.

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Die Fristenlösung und nicht die zur Erlangung der erhöhten Geburtenbeihilfe vorgeschriebenen Pflichtuntersuchungen haben zu der merklichen Senkung der Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahren geführt, erklärte der Chef der Sem-melweisklinik der Gemeinde Wien, Primarius Dr. Rocken-schaub, in einem Interview. Die FURCHE befragte dazu den Vorstand der II. Univ.-Frauenklinik in Wien; das Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Hugo Husslein führte unser Mitarbeiter Karl Bier.

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FURCHE: Dr. Rockenschaub behauptet, daß das Gros der Risikoschwangerschaften stets die unerwünschten Schwangerschaften gewesen seien. Die Fristenlösung biete nun den Frauen die legale Möglichkeit, sich dieser Risikoschwangerschaften zu entledigen, was im Verein mit verbesserter Information über Empfängnisverhütung zwangsläufig zu einer Verringerung der Säuglingssterblichkeitführe. Eine solche Erfahrung werde auch durch internationale und österreichische Statistiken bestätigt.

HUSSLEIN: Beweise für eine solche Hypothese stehen aus. Sehen wir einmal von den weniger häufigen Fällen ab, in denen von Anfang an ein Risiko zu erkennen ist, weil die Mutter einen körperlichen Schaden, etwa ein Herzleiden, hat. Das Gros der Risikogeburten sind als solche von der 20. Woche an auszumachen, nicht aber in der für eine Abtreibung freigegebenen gesetzlichen Frist von 12 Wochen.

FURCHE: Man ist geneigt anzunehmen, daß die zur Erlangung der Geburtenbeihilfe von S 16.000,- vorgeschriebenen Untersuchungen Frauen in wachsender Zahl zu erhöhter ärztlicher Betreuung motiviert und dies die Säuglingssterblichkeit gesenkt habe. Dr. Rockenschaub meint dagegen, auf Grund einer Meinungsbefragung eine Verringerung der Schwangerenuntersuchungen seit der Einführung des Mutter-Kind-Passes feststellen zu können.

HUSSLEIN: Allein aus einer Meinungsbefragung einen solchen Schluß zu ziehen, dürfte denn doch gewagt sein. Uber die tatsächliche Zahl der Untersuchungen wird man urteilen können, wenn die einschlägige Computeraufrechnung aus dem Gesundheitsministerium vorliegt. (Anmerkung der Redaktion: Nach Auskunft aus dem Gesundheitsministerium ist sie Anfang 1979 zu erwarten.) Die im Mutter-Kind-Paß geforderten vier Schwangerenuntersuchungen sind jedenfalls ein Mindestprogramm; man weiß, daß mit steigender Zahl der Untersuchungen die Zahl der Frühgeburten und damit das Risiko sinkt.

FURCHE: Eine weitere Überraschung bot Dr. Rockenschaub damit, daß er in seinem Interview exakte Zahlen über das Intimverhalten der Frauen vorlegte: Von den 1,517.000 Frauen zwischen 15 und 45 Jahren, errechnet er auf Grund einer Meinung sbef ragung, hätten 166.520 eine Schwangerschaft verhütet, 163.610 seien schwanger geworden; da aber im selben Jahr nur 86.520 Kinder geboren wurden, müßten zumindest 77.090 Abtreibungen erfolgt sein.

HUSSLEIN: Österreich ist das einzige Land, das die Fristenlösung eingeführt hat, ohne eine Statistik über die vorgenommenen Abtreibungen vorzusehen. Dies scheint auch Dr. Rockenschaub jetzt als Mangel zu empfinden, wenn nun auch er eine Abtreibungsstatistik fordert, obwohl eine solche von den Sympathisanten der Fristenlösung bisher grundsätzlich abgelehnt worden ist. Aus einer Meinungsumfrage errechnete Zahlen ersetzen keine Abtreibungsstatistik.

FURCHE: Was bringt eine Abtreibungsstatistik für die Praxis?

HUSSLEIN: Sie würde über den quantitativen Umfang des Abtreibungsproblems und seine größenmäßige Entwicklung im Verlauf der

Jahre Aufschluß geben. Bei Anhängern und Gegnern der Fristenlösung besteht Ubereinstimmung darüber, daß Abtreibung die schlechteste Form der Geburtenregelung ist und vermehrte Aufklärung über Empfängnisverhütung diesem Übel begegnen könnte. Gerade dem wirkt aber die völlige Freigabe der Abtreibung im Rahmen der Fristenlösung

entgegen, besonders dort, wo Aufklärung besonders notwendig wäre, bei Menschen aus einfachem Milieu: Wenn die Frau weiß, daß sie im Bedarfsfall „einfach“ abtreiben lassen kann, mindert das die Bereitschaft, sich mit den verschiedenen Methoden der Empfängnisverhütung vertraut zu machen. Diese Bereitschaft würde erhöht, wenn sie weiß, daß sie nur unter bestimmten, wenn auch sehr weitgefaßten Bedingungen eine legale Abtreibung vornehmen lassen kann. Ich bin daher für die erweiterte medizinische Indikation, verbunden mit einem Ausbau der Beratung in Fragen der Familienplanung.

FURCHE: Nun ist aber die Fristenlösung gesetzliche Realität.

HUSSLEIN: Sicher, aber auch bei Geltung der Fristenlösung sind wesentliche Verbesserungen in ihrer

praktischen Durchführung möglich. Eine Mindestreform müßte sicherstellen:

• Einer Abtreibung muß eine Beratung vorangehen, die diesen Namen verdient. Das Verlangen nach Abtreibung verdeckt oft einen in Wahrheit im Tiefsten bestehenden Wunsch nach dem Kind. Dies aufzudecken und bestehende Schwierigkeiten beseitigen zu helfen, erfordert allerdings viel mehr Zeit und Mühe, als eine Abtreibung zu vermitteln.

• Beratung und Abtreibung müssen streng getrennt sein.

• Die Abtreibung darf nur in einem Spital erfolgen, keinesfalls wie bisher in einer Privatpraxis erlaubt sein. (Die anonyme Erfassung der Abtreibungen bildet dann die Grundlage der Abtreibungsstatistik.)

FURCHE: Die Geburtenzahl der sechziger Jahre lag weit über 130.000; seither ist sie ständig gesunken, in den beiden letzten Jahren sogar schon - rechnet man die Gastarbeiterkinder ab - unter 80.000 und damit auch schon tief unter die Zahl der Sterbefälle (91.000 im Vorjahr). Wie sehen Sie diese Entwicklung?

HUSSLEIN: Obwohl nun schon nicht einmal ein Nullwachstum gesichert ist, fürchte ich, daß der Tief-

punkt noch nicht erreicht ist. Die Flut des Konsumangebots verdrängt den natürlichen Wunsch nach Kindern. Uber materielle Maßnahmen zur Sicherung des Lebensstandards der Familien muß auch ihr Sozialprestige gehoben werden. Dazu will die „Gesellschaft für Familie und Kind“ beitragen, die ich gemeinsam mit meinem Kollegen von der Pädiatrie, Andreas Rett, gegründet habe. Um die richtigen Ansatzpunkte für unsere Arbeit zu finden, haben wir eine Studie beim Psychologischen Institut der Universität Wien in Auftrag gegeben, warum Menschen unserer Zeit im Grunde Kinder wollen oder ablehnen.

Unbeschadet der Freiheit des Einzelnen, ob und wieviele Kinder er haben will, muß eine Gesellschaft, die überleben will, eine positive Einstellung zu Familie und Kind bekunden und praktizieren. In diesem Rahmen hat Familienplanung und vernünftige Geburtenregelung durchaus ihren Platz. In diesem Zusammenhang darf aber an die Feststellung erinnert werden, die der Psychiater Hans Strotzka in einem Vortrag vor sozialistischen Frauen getroffen hat: Eine Gesellschaft, die zum Zwecke der Geburtenregelung die Abtreibung fördert, muß eine kranke Gesellschaft sein.

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