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Dritte Welt im Abseits

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Die positiven Entwicklungen in Osteuropa bringen die Nord-Süd-Beziehungen in Gefahr. Auf die Entwicklungsländer könnte nämlich bequem „vergessen“ werden.

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Die positiven Entwicklungen in Osteuropa bringen die Nord-Süd-Beziehungen in Gefahr. Auf die Entwicklungsländer könnte nämlich bequem „vergessen“ werden.

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Die internationalen Statistiken und zahlreiche Erfahrungsberichte belegen, daß die Armut in den Ländern der Dritten Welt relativ und absolut größer ist als in Osteuropa. Während die westlichen Industrieländer mit nur 17 Prozent der Weltbevölkerung 66 Prozent des Welt-Einkommenskuchens verzehren, verbleiben der Dritten Welt mit 75 Prozent der Weltbevölkerung nur 15 Prozent des Kuchens. Osteuropa einschließlich der Sowjetunion erhält mit acht Prozent der Weltbevölkerung immerhin noch 19 Prozent des Welteinkommens.

Das Pro-Kopf-Einkommen einiger Oststaaten kommt zwar nahe an jenes in Schwellenländern wie Argentinien und Brasilien heran, aber im Durchschnitt ist es neunmal höher als in der Dritten Welt. Trotz Korruption und Bereicherung der Funktionärsschicht istauchder nationale Reichtum in Osteuropa gleichmäßiger verteilt als in den Ländern der südlichen Hemisphä-

re: Die Kluft zwischen der reichen Minderheit und der armen Mehrheit hat nicht jene Ausmaße erreicht, die in vielen Entwicklungsländern das nackte Überleben großer Bevölkerungsgruppen gefährden. Schließlich unterscheiden sich die Länder Osteuropas durch ihre höhere Industrialisierung und die höhere Schulbildung der Bevölkerung.

Die Ausgangsposition für eine relativ schnelle wirtschaftliche Entwicklung ist daher ungleich besser als die der Dritten Welt. Die Antwort der westlichen Industrieländer auf die Umwälzungen in Osteuropa besteht konsequenterweise in einer umfangreichen Wirtschaftshilfe, während die Leistungen der meisten OECD-Staaten für die ärmsten Länder der Welt weit unter den international gesetzten Standards liegen. Die Wurzel dieser einseitig „großzügigen“ Haltung liegt in der wohl richtigen Überlegung, daß Investitionen in Osteuropa der Wirtschaft der Geberländer viel schneller rückfließende Gewinne bringen als jene in den meisten Ländern des Südens.

Die Frage ist also nicht, ob Wirtschaftshilfe an Osteuropa geleistet werden soll, sondern woher diese Mittel kommen sollen. In den westlichen Indu-strieländern und auch in Österreich bestehen Tendenzen, diese Mittel zu Lasten der Hilfe für die Dritte Welt flüssig zu machen.

Eine tatsächliche Kürzung der Entwicklungshilfe ist zwar bisher nicht vorgenommen worden, aber die Erhöhungen bleiben weit hinter den zugesagten Steigerungen zurück. Und die Stimmen mehren sich, die Entwicklungshilfe zugunsten der Ost-Hilfe wenigstens in den nächsten Jahren stillzulegen. Die bisherigen Beteuerungen, es wäre einfach kein Geld für mehr Entwicklungshilfe da, entpuppen sich als mangelnder politischer Wille, der angesichts der Chancen der eigenen Wirt-schaft im Osten durchaus mobilisierbar ist. Auch im kirchlichen Bereich besteht der Wille, die Öff nungs- und Demokratisierungstendenzen im Osten zu unterstützen. Abgesehen von einer Nothilfe in einer Übergangszeit geht es vor allem um eine strukturelle Stärkung der bisher unter den kommunistischen Regierungen behinderten Schwesterkirchen und um Hilfe beim Aufbau von Laienbewegungen. Auch in der Kirche werden Stimmen laut, daß zur Erreichung dieser Ziele ein Teil der von den kirchlichen Hilfswerken für die Dritte Welt gesammelten Mittel für die Unterstützung der Kirche in Osteuropa umgewidmet werden sollten.

Die Christen, die gutmeinend eine solche Nachbarschaftshilfe fordern, vergessen dabei offensichtlich, daß auch die österreichische Kirche Teil der Weltkirche ist, deren überwiegender Teil in der Dritten Welt lebt und leidet und daher unserer besonderen -Unterstützung bedarf. Auch die mahnenden Rufe Papst Johannes Paul II. nach weltweiter Solidarität und nach einer vorrangigen Option für die Ärmsten dieser Welt scheinen in der durchaus verständlichen Ost-Euphorie in Vergessenheit zu geraten.

Wenngleich die fast überschwengliche Hinwendung zu unseren Nachbarstaaten aus dem zerfallenden „Ostblock“ psychologisch und wirtschaftlich verständlich ist, dürfen die globalen Relationen nicht verwischt werden. Die extreme Armut in der Dritten Welt verlangt sowohl aus moralischen Gründen als auch aus langfristigem Eigeninteresse ein umfassenderes Hilfsprogramm als bisher. Die Bewohner des neuen „Hauses Europa“ könnten sonst zu spät drauf-kommen, daß sie in ihrer Eurozen-trik übersehen haben, daß sie nur das oberste Stockwerk im gemeinsamen Haus unserer Welt sind, das zusammenstürzt, weil die unteren Stockwerke nicht rechtzeitig saniert wurden.

Noch ist Pessimismus fehl am Platz: Österreich ist ein reiches Land und kann seinen Beitrag sowohl für den Osten als auch für den Süden leisten, ohne in Armut zu versinken. Voraussetzung ist allerdings eine Perspektive, die die langfristigen globalen Zusammenhänge im Auge behält und durch kurzfristige Vorteile nicht langfristige Nachteile einhandelt. Die doppelten Anstrengungen werden ihren Preis haben, aber die Ergebnisse werden den Einsatz rechtfertigen.

Der Autor ist Geschäftsführer der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission.

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