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Drohender Abstieg

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Die Neue Hauptschule in roten (Schüler-)zahlen. Neue Organisationsmodelle bieten kaum Abhilfe, künftig wird es mehr ums Innenleben dieser Schulform gehen.

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Die Neue Hauptschule in roten (Schüler-)zahlen. Neue Organisationsmodelle bieten kaum Abhilfe, künftig wird es mehr ums Innenleben dieser Schulform gehen.

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Mehr als 80 Presseaussendungen haben sich allein im vergangenen Kalenderjahr mit dem bildungspolitisch brisanten Thema „Neue Hauptschule“ befaßt. Das Interesse der Öffentlichkeit für diese Schulform, die immerhin rund 70 Prozent aller Zehn- bis

Vierzehnjährigen einschließt, ist offenbar wach und ausgeprägt.

In nicht wenigen Zeitungsmeldungen fand sich das Wort von der Krise der Hauptschule. Zu Krise heißt es im Duden: „Entscheidungssituation, Wende- und Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung.“ Trifft diese Definition auf die gegenwärtige Lage der Hauptschule zu?

Die österreichische Schullandschaft ist vielschichtig und vielgestaltig. Jede der rund 1.200 Hauptschulen Österreichs zeigt ihr eigenes Profil. Daraus leitet sich auch folgende Konsequenz ab: Komplexe Verhältnisse verlangen differenzierte Betrachtungsweisen und Methoden. Dementsprechend wird sich das Leben in Hauptschulen ländlicher Regionen anders ausnehmen als etwa im städtischen Umfeld. Der Unterricht an Hauptschulen, die die Sogwirkung eines Gymnasiums am Ort oder eines in nächster Umgebung situierten mit allem Nachdruck zu spüren bekommen, wird sich anders gestalten als an Schulen, die die ungeschmälerte Stichprobe der Volksschulabgänger aufnehmen.

Die Neue Haüptschule, seit 1985 schulstufenweise und aufsteigend in ganz Österreich eingeführt, hat sich in den ländlichen Regionen durchaus bewährt, in den städtischen Ballungsgebieten jedoch Probleme aufgeworfen, die einer dringenden Lösung bedürfen. Und diese pädagogisch wenig er- . freulichen Extremsituationen im städtischen Umfeld dürften mithin die massiven, die Hauptschule geradezu zur Nebenschule degradierenden Pressemeldungen ausgelöst haben.

Von den rund 1.200 Hauptschulen Österreichs erhalten zirka zehn Prozent (120) weniger als 50 Prozent der Volksschulabgänger, wobei sich der Anteil in Extremfällen sogar bis auf 20 Prozent reduzieren kann.

Diese 120 Hauptschulen unterschiedlicher Größe, voll dem sogenannten „Creaming Effect“ ausgesetzt (viele leistungsstarke Volksschüler, aber auch „Orientierungsschüler“ und nicht selten ausgesprochene „Grenzfälle“ wechseln nicht in die Hauptschule über, sondern werden von Gymnasien „abgeschöpft“), finden sich vornehmlich in städtischen Ballungsgebieten, in der Bundeshauptstadt, aber auch in Landeshauptstädten und Großraumsiedlungen.

Die so bewirkte „Gleichgewichtsstörung“ zwingt die Lehrer, das generell verbindliche Organisationssystem der Neuen Hauptschule aufzulockern, zuweilen sogar aufzulösen und nach angemesseneren Formen der Weiterentwicklung zu suchen. Wiener Hauptschullehrer: „Die veränderte strukturelle Situation ist für uns Lehrer eine harte pädagogisehe Herausforderung.“ „Die städtische Hauptschule hat nur dann eine Perspektive, wenn wir in ihr jedem einzelnen Hauptschüler eine annehmbare Perspektive geben.“

Das bedeutet im Klartext: Stadtteilorientiertes Lernen, den Schüler in greifbare und „begreifbare“ Verbindung zu seinem Lebensumfeld zu bringen, ihm genügend Zeit für praktisches Tun und für Anwendung des Gelernten einzuräumen, am bestehenden Lehrplan daher energisch die Schere anzusetzen, es mit dem Sichten und Lichten des Lehrstoffes ernstzunehmen und nicht zuletzt den Schülern vermehrt Gelegenheit zu Mitgestaltung und Mitverantwortung zu geben.

Zwischenbilanz im Wiener Raum: Die neuen Ansätze nehmen zusehends Gestalt an, der pädagogische Engpaß der ersten Jahre, die anfängliche Krise scheint gebannt. Freilich, und das muß besonders unterstrichen werden, die Lehrerschaft kann bei allem Engagement die bestehenden Barrieren nicht allein und aus eigener Kraft beseitigen. Hier sind vielmehr die Entscheidungsträger der Bildungspolitik aufgerufen, durch wohlüberlegte und behutsame Maßnahmen steuernden Einfluß auf die fehlgeleiteten Schülerströme zu nehmen.

20 Prozent der österreichischen Hauptschulen gewinnen 51 bis 66 Prozent Anteil der Volksschulabgänger. Auch diese Kategorie verlangt von den Lehrern ein Höchstmaß an pädagogischer Einsatz-und Anstrengungsbereitschaft.

70 Prozent dürfen mit 67 bis 100 Prozent aller Abgänger der vierten Volksschulklasse rechnen. In diesem Falle ist ein Strukturgefü-ge gegeben, das die volle didaktisch-methodische Entfaltung des nahezu 15 Jahre lang erprobten Konzepts der Neuen Hauptschule erlaubt.

Mit dem nun beginnenden Schuljahr 1988/89 absolviert die Neue Hauptschule ihren ersten vollen (vierjährigen) Durchgang. Ein gängiges Wort geht derzeit in pädagogischen Diskussionen um: Attraktivität. Die Hauptschule müsse ihren in erster Linie durch den rapiden Schülerschwund drohenden Abstieg mit attraktiven Angeboten beantworten und stoppen. Die Erfahrung der letzten Jahre lehrt indessen: Das Steuer kann durch „verlockende, elegante, anziehend-hübsche“ Offerte kaum herumgeworfen werden. Quantitative Verschiebungen finden lediglich zwischen Hauptschulen statt.

Einer Vielfalt muß Rechnung getragen werden: Die Neue Hauptschule braucht ein größeres Maß an Autonomie, damit sie — gleichsam in Selbstverwaltung — rascher und wirksamer regionalen Gegebenheiten entsprechen kann. Dabei sollte das Prinzip der Subsidiarität handlungsleitend sein. Eine Milderung des zunehmend spürbaren Verrechtli-chungsdrucks wird anzustreben sein.

Schließlich geht es um die Wiedergewinnung der elementaren Grundformen des Lehrens und Lernens: des Fachunterrichtes, des fach- und fächerübergreifenden Unterrichts als notwendigem Korrektiv zur Einseitigkeit und Begrenztheit des Fachunterrichts, des projektorientierten Unterrichts, des Trainingsunterrichts.

Selbstverwaltung

Der drohende Abstieg der Hauptschule zur Nebenschule ist aufhaltsam. Die Möglichkeiten, durch organisatorische Kunstgriffe und durch Produzieren immer neuer Organisationsmodelle die „pädagogische Bilanz der roten Zahlen“ zu überwinden, scheinen erschöpft. Der Blick gilt nun verstärkt dem „Innenleben“ der Schule. Ein Gutteil der Hoffnung, der Neuen Hauptschule einen festen Boden unter den Füßen zu sichern, ist heute (wie ehedem) auf den Angelpunkt des unterrichtlichen und erzieherischen Geschehens, auf die Person des Lehrers zu setzen.

Der Autor ist Leiter des Zentrums für Schulversuche und Schulentwicklung des BMUKS in Klagenfurt.

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