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Droht eine biologische Kastengesellsdiaft?

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Die Frage, ob die menschliche Intelligenz vorwiegend vererbt oder milieu- beziehungsweise erziehungsbedingt sei, scheidet neuerdings Psychologen und Pädagogen in zwei tödlich verfeindete Läger. Die Milieutheorie, die viele Jahre nahezu unangefochten das Feld behauptet hat, verliert in letzter Zeit unter dem Zwang der Fakten rapid an Boden. Wie so oft, wenn die empirische Evidenz auf die Barrieren weltanschaulicher Vorurteile stößt, werden Lehrmeinungen mit der Intensität von Glaubensüberzeugungen vorgetragen, nimmt der Streit zeitweise geradezu Züge einer Hexenjagd an.

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Die Frage, ob die menschliche Intelligenz vorwiegend vererbt oder milieu- beziehungsweise erziehungsbedingt sei, scheidet neuerdings Psychologen und Pädagogen in zwei tödlich verfeindete Läger. Die Milieutheorie, die viele Jahre nahezu unangefochten das Feld behauptet hat, verliert in letzter Zeit unter dem Zwang der Fakten rapid an Boden. Wie so oft, wenn die empirische Evidenz auf die Barrieren weltanschaulicher Vorurteile stößt, werden Lehrmeinungen mit der Intensität von Glaubensüberzeugungen vorgetragen, nimmt der Streit zeitweise geradezu Züge einer Hexenjagd an.

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Auf der einen Seite bestätigt eine immer größere Zahl von Arbeiten auf dem Gebiet der quantifizierenden Genetik die überragende Rolle der genetischen Faktoren für die menschliche Intelligenz, wobei die Vertreter der Empirie die genetischen Faktoren gegenüber den milieu- und erziehungsbedingten mit rund 80 Prozent in Rechnung stellen. Auf der anderen Seite aber erschüttern solche Forschungsergebnisse die auf den kompensatorischen Unterricht in seiner heutigen Form orientierten Erziehungssysteme vieler Länder. Dazu kommt der Umstand, daß zahlreiche Gesellschaftstheoretiker der Linken die gesellschaftliche Bedingtheit der Intelligenz zum Dogma erhoben haben.

In der Bundesrepublik wurden Diskussionen über diesen Gegenstand gewaltsam verhindert, Vertreter der Theorie von der vorwiegend genetischen Bedingtheit der Intelligenz verprügelt. In den USA mußte sich Arthur Jensen, Professor der Pädagogik an der University of California, zeitweise eine bewaffnete Leibgarde halten, nachdem mehrere Anschläge gegen ihn verübt worden waren. Seit er, taktisch ungeschickt und in vergröberter Form, nicht nur den Bankrott der kompensatorischen Erziehung verkündete, sondern obendrein Chancengleichheit für Illusion erklärte und den im Durchschnitt um 15 Prozentpunkte niedrigeren Intelligenzquotienten der schwarzen Amerikaner ins Spiel brachte, gilt er den einen als Erziehungsfaschist, während ihn die Gegenseite zum Propheten einer neuen konservativen Erziehungswissenschaft hochstilisiert. Jensen liebt es, seine Ansichten provokatorisch vorzutragen, fühlt sich aber im übrigen als Naturwissenschaftler und Vorkämpfer naturwissenchaftlicher Methoden auf einem von Ideologen usurpierten Gebiet.

Während die Vertreter der Milieutheorie vielfach auf das Argument retirieren, eine Betonung der Milieufaktoren führe immerhin zu pädagogischen Maßnahmen, eine Betonung der genetischen Faktoren hingegen zur pädagogischen Inaktivität, erwidern die „Biologen“, eine wirklich zweckmäßige, kompensatorische Erziehung könne nur unter Berücksichtigung aller erreichbaren Informationen über das Zustandekommen der menschlichen Intelligenz aufgebaut werden und im übrigen dürfte die Forschung nicht aus gesellschaftlichem Opportunismus behindert werden.

Mit Sicherheit ist die Milieutheorie die sympathischere, demokratischere, optimistischere Lehre vom Zustandekommen der menschlichen Intelligenz, während die Theorie von ihrer genetischen Bedingtheit logische Konsequenzen enthält, die bis zur Ausbildung einer biologisch orientierten Kastengesellsehaft, bis zur Fixierung der Armen im Geiste in einer neuen, sozial unterprivilegierten Unterschichte, die ihr Schicksal von Generation zu Generation weitervererbt, reichen. Sollten aber jene, die da erklären, Intelligenz sei ein hochvererbliches Merkmal, recht haben — würden die Folgen ihrer Lehre nicht auch dann emtreten, wenn man sie zum Schweigen bringt?

Zunächst: Intelligenz ist wesentlich leichter zu messen als zu definieren, und die resignierende Feststellung, Intelligenz sei eben qualitativ dasjenige, was sich im Intelligenzquotienten (kurz IQ) quantitativ ausdrückt, ist wesentlich mehr als ein Bonmot. Bekanntlich ist der IQ

eine Maßzahl, die eine umfangreiche Palette von Fähigkeiten, die einer Batterie von Tests unterzogen werden, in Beziehung zum Alter setzt. Ein hoher IQ ist keine Garantie, aber eine Voraussetzung für einen guten Schulerfolg — Kinder mit niedrigem IQ leisten fast durchwegs in der Schule wenig, während Kinder mit hohem IQ hervorragenc bis ungenügend abschneiden können, denn bekanntlich genügt ja Intelligenz allein nicht für einen guter Schulerfolg. Je mehr sich der Mensch dem Erwachsenenalter nähert, um so mehr stabilisiert sich der IQ aui einem Wert, der dann nur noch geringfügig variiert.

Die Tests sind so geeicht, daß ein IQ von 100 stets dem genauen Altersdurchschnitt entspricht. Ein Sechsjähriger mit dem IQ von 10t entspricht intelligenzmäßig genau dem Durchschnitt seiner Altersgruppe. Ein Erwachsener mit einem IQ von 100 ist von genau durchschnittlicher Intelligenz. Genau die Hälfte jener Menschengruppe, aul die die Testbatterie zugeschnitten ist, ist „gescheiter“, genau die Hälfte „dümmer“ als er. Die Menschengruppe, auf die sich der IQ bezieht, die Vergleichsbasis“ — das ist am ehesten die Gesamtheit der weißen Amerikaner, Mittel- und Nordeuropäer.

Natürlich ist die Feststellung, die schwarzen Amerikaner hätten im Durchschnitt einen um 15 Prozent - punkte niedrigeren IQ als die weißen Amerikaner, von außerordentlicher Brisanz. Dafür hat sie um so weniger Aussagewert. Sie sagt nichts über die Intelligenz der Schwarzen im Vergleich zu der der Weißen, sondern nur, daß die Testbatterien zur Ermittlung des IQ nach den Bedürfnissen und Voraussetzungen der weißen Amerikaner und Europäer entwickelt wurden. Cum grano salis kann man sagen, daß unter anderen Voraussetzungen, nämlich dann, wenn der IQ in Afrika erfunden worden wäre, wahrscheinlich die Weißen schlechter abschneiden würden. Diesbezügliche Forschungen sind vorerst mit einem Tabu belegt. Tatsache ist jedenfalls, daß aller schwarz-weißen IQ-Problematik zum Trotz, Millionen amerikanischer Neger höhere Testergebnisse erzielen als der weiße Durchschnittsamerikaner, anderseits Millionen weißer Amerikaner hinter dem IQ-Durchschnitt der schwarzen Amerikaner Zurückbleiben.

Mit der Fräse, ob Intelligenz erb lich oder milieubedingt sei, hat das nur indirekt zu tun. Über die Erblichkeit der menschlichen Intelligenz liegt gesichertes Beweismaterial vor, über die Vergleichbarkeit schwarzer und weißer Intelligenz keineswegs. Eine Fülle empirischer Arbeiten bestätigt die überwiegende Rolle des Erbfaktors für die menschliche Intelligenz, bestätigt die Tatsache, daß Intelligenz zu den hochvererblichen Merkmalen zählt, wenn sie mit einem Faktor von 0,8 oder auch nur 0,7 auch eine geringfügig geringere Erblichkeit aufweist als etwa die Körpergröße mit einer Erblichkeit von 0,95 (was einem Anteil der nichterblichen Faktoren an der Körpergröße von nur fünf Prozent entspricht).

Hieb- und stichfest bewiesen wurde die Erblichkeit der Intelligenz vor allem durch eine Reihe von Untersuchungen an Gruppen eineiiger Zwillinge, die zum Teil, bis auf das Jahr 1950 zurückgehen, aber in der Zwischenzeit weitgehend verdrängt wurden. Das gesamte einschlägige Material wird ausführlich referiert bei Richard J. Hermstein, „Chancengleichheit — eine Utopie? Die IQ- bestimmte Klassengesellschaft“

(Deutsche Verlags-Anstalt, „dva informativ“, Stuttgart 1974, Paperback, 154 Seiten); der Harvard-Professor der Psychologie tritt vor allem für volle Forschungsfreiheit ohne ideologische Scheuklappen ein. Hermstein referiert Untersuchungen über die Intelligenzentwicklung getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge unter Berücksichtigung der Berufe der leiblichen und der Adoptivväter (um Milieu-Parallelitäten auszuschalten). Dabei ergab sich auch bei eineiigen Zwillingen, die im frühesten Kindesalter getrennt wurden, und zwar auch dann, wenn etwa ein Kind im Haushalt eines hochintelligenten Akademikers, das andere aber bei einem niedrig qualifizierten Arbeiter mit unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwuchs, hohe Übereinstimmungen im Intelligenzniveau (bei wesentlich größeren Abweichungen im Schulerfolg). Es ergab sich keinerlei Zusammenhang zwischen IQ und Milieu, hingegen eine gewaltige 0,85-Korrelation zwischen den IQs der getrennt aufgewachsenen Zwillinge, also ein 85-prozentiges Ubereinstimmen.

Woraus hervorgeht, daß die schulischen Leistungen in viel höherem Maß vom Milieu abhängen als der IQ, auch wenn in beiden Fällen sowohl Erbanlagen wie auch Milieu eine Rolle spielen.

Zwei andere gewichtige Argumente gegen die Milieutheorie. Das eine ergibt sich aus dem IQ-Ver- gleich von Adoptivgeschwistem, die von verschiedenen Eltern stammen, aber in einem gemeinsamen Milieu aufwachsen. Hätten die Umweltfaktoren jene Bedeutung, die ihnen die Vertreter der Milieutheorie bescheinigen, sollte zwischen Adoptivge- schwistern eine IQ-Korrelation be-

der zwischen leiblichen Geschwistern entspricht. Tatsächlich ist die IQ- Korrelation zwischen Adoptivge- schwistern um die Hälfte geringer als bei leiblichen Geschwistern. (Und selbst dieser geringe Grad von Übereinstimmung könnte, Hermstein zufolge, auch auf die Auswahlkriterien bei der Übergabe von Adoptivkindern zurückgeführt werden, da man sich dabei bemüht,, den Adoptivkindern „wesensverwandte“ Kinder zu vermitteln.)

Das andere Argument beruht auf IQ-Vergleichen zwischen Adoptivkindern, Adoptiveltern und leiblichen Eltern, wobei sich gezeigt hat, daß selbst zwischen Kindern und Elternteilen, die ihre Kinder nie gesehen haben, höhere IQ-Korrelatio- nen nachgewiesen werden können als zwischen Adoptivkindern und Adoptiveltern.

Die Streitfrage bezieht ihre Sprengkraft nicht zuletzt aus der jedem Gleichheitsdenken und jedem Streben nach Chancengleichheit zuwiderlaufenden Schicksalhaftigkeit angeborener Intelligenz in Verbindung mit der zunehmenden Rolle der Intelligenz bei der Partnerwahl, die Partner mit hohem IQ und solche mit niedrigem IQ zusammenführt — wozu noch die ebenfalls zunehmende Bedeutung der Intelligenz für Berufswahl, Berufserfolg und den sozialen Status kommt.

Auch die enge Koppelung zwischen IQ und Beruf beziehungsweise beruflichem Erfolg wurde durch zahlreiche empirische Untersuchungen nachgewiesen. Von vier Determinanten (IQ, Bildungsstand des Vaters, Beruf des Vaters und Zahl der Geschwister) erwies sich der Kindheits- IQ als aussagekräftigster Vorhersagefaktor für den künftigen Bildungsstand, das Berufsniveau und Einkommen im frühen Erwachsenenalter — wobei vom Kindheits-IQ mehr abhängt als von allen drei anderen Faktoren zusammen!

Die Zahl der Arbeiten, in denen Berufe, Einkommen und IQ einander zugeordnet wurden, ist Legion — mit weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen, die sich etwa in der Formel zusammenfassen lassen, daß die Chance, mit einem hohen IQ eine geringqualifizierte Tätigkeit ausüben zu müssen, zwar gering ist, aber doch wesentlich größer als die Chance, mit einem niedrigen IQ in einen Beruf mit hohen Anforderungen und hohem Einkommen und Ansehen zu gelangen. Die größten Unterschiede im IQ-Spektrum der einzelnen Berufe zeigen sich an der unteren Grenze, wobei vor allem dann, wenn man jeweils die untersten und obersten zehn Prozent (also die ,;dümm- sten“ und die „gescheitesten“ Anwälte, Bäcker, Hilfsarbeiter und so weiter) ausscheidet, der Umstand zutage tritt, daß die gehobeneren Tätigkeiten mit ihrem IQ-Minimum über dem IQ-Maximum der untergeordneteren zu liegen scheinen.

Die Intelligenz des Menschen ist nicht nur sein Schicksal — der IQ

wird es auch immer mehr. Hermstein warnt vor dem Gespenst der „Meritokratie“, einer Gesellschaft Į mit immer stärker intelligenzabhängigen Rangunterschieden bei abneh- ender Fluktation von unten nach oben und umgekehrt. Er schreibt: „Indem die Leute normalerweise einen Partner aus ihrer eigenen Klasse heiraten, vermischen sich 1 entsprechende Erbanlagen, und so ‘ wirkt sich das mehr oder minder ‘ einheitliche Erfolgsspektrum wieder auf das Keimplasma aus und schafft 1 auf jeder sozialen Ebene mehr 1 Gleichförmigkeit hinsichtlich der

Geistesfähigkeiten, des Tempera-

mentes und vielleicht sogar so 1 nebensächlicher Gegebenheiten wie der äußeren Erscheinung, als auf Grund der genetischen Gesetzmäßigkeiten allein zu erwarten stünde.“ Dennoch sei eine Zukunft zu ge- : wärtigen, „in der die Gesellschafts-

klassen nicht nur weiterbestehen, - sondern sich immer fester auf ange- , borene Unterschiede gründen wer- 1 den. Mit steigendem Wohlstand und zunehmender Vielschichtigkeit der menschlichen Gesellschaft droht sich L so eine Schicht herauszubilden, un fähig, die gängigen Berufe auszuüben, außerstande, beim Wettlauf um Erfolg und Leistung mitzuhalten, und aller Wahrscheinlichkeit nach von Eltern in die Welt gesetzt, die ihrerseits schon auf ähnliche Weise versagten. In Aldous Huxleys Zukunftsroman .Schöne neue Welt“ schafft eine böse und irregeleitete Wissenschaft die .Alphas, ,Gammas’ und anderen Menschentypen, doch wie Michael Young in einem weniger bekannten, aber unvergleichlich weitblickenderen Buch ,The Rise of the Meritocracy’ darlegt, wird wohl der Gang der Dinge ganz von selbst zu diesem oder einem ähnlichen Ergebnis führen … Und offenbar sind die von ihm angekündigten … Umwälzungen bereits im Gange, beschreibt doch ein so aufmerksamer Beobachter wie der Sozialwissenschaftler Edward Banfield in seinem Buch ,The Unheavenly City’ die immer hoffnungsloser in ihrem Zustand festgefahrene Unterschicht der amerikanischen Großstädte. Während Sonntagsbeilagen und Illustrierte ständig neue Schauermärchen über genetische Manipulationen bringen, scheint sich unsere Gesellschaft in Wirklichkeit unaufhaltsam in erblich verankerte Klassen aufzuspalten. Und am beklemmendsten wofhl an dieser Aussicht ist, daß ausgerechnet die Verwirklichung der zeitgenössischen politischen und sozialen Ziele zur Herausbildung einerzunehmend erblichen Meritokratie führt.

„Zwar“, so Hermstein, „wird die biologisch bedingte Schichtung der Gesellschaft kommen ob wir sie nun mit Tests exakt messen können oder nicht, aber die Tests ermöglichen doch ein humaneres und toleranteres Erfassen der zwischenmenschlichen Unterschiede. Hier liegt im Augenblick unsere größte Hoffnung, könnten uns doch entsprechende Informationen helfen, eine brauchbare kompensatorische Erziehung aufzubauen. Unglücklicherweise jedoch läßt sich diese gute Sache nicht durchfechten, solange die egalitäre Idee als alleinseligmachende Lehre gilt und die Mühe, die wirklichen Zusammenhänge zu verstehen, als Ketzerei angeprangert wird.“

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