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Durch Krisen neues Leben gewinnen

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Krise wird meistens als Bedrohung erlebt. Wir sollten sie als Chance entdecken. Sie läßt uns erkennen, was an unserem Tun und Denken bisher zu einseitig und daher falsch war.

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Krise wird meistens als Bedrohung erlebt. Wir sollten sie als Chance entdecken. Sie läßt uns erkennen, was an unserem Tun und Denken bisher zu einseitig und daher falsch war.

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Krisen sind Zeiten der Wandlung. Diese Wandlung ist jedoch nicht eine, zu der wir uns frei entschlossen hätten. Es ist kein: „Ich möchte dieses oder jenes anders machen." Vielmehr geraten wir in Krisen hinein oder wir treiben in sie hinein.

Krisen haben etwas mit Not-Wendigkeit zu tun. Wir geraten mit dem, was wir bisher getan haben, in Not, und etwas muß sich wenden. In der Regel wissen wir nicht sofort, was sich wenden muß, oder wir wissen nicht, wohin es sich wenden soll.

Krisen haben etwas Zwingendes. Wir können ihnen nicht auskommen. Dennoch gehört es zweifellos zu Krisensituationen dazu, daß wir ihnen gerne auskommen würden und möglichst lange alles dafür tun, sie nicht wahrhaben zu müssen.

Krisen sind immer doppelgesichtig. Sie sind mit Gefahren und Chancen verbunden. Die Gefahren besagen: Gelingt die notwendige Wandlung nicht, droht der Untergang. Die Chancen besagen: Gelingt die Wandlung, werdet ihr neues Leben empfangen.

Deshalb sind Krisen Zeiten der Unsicherheit. Sie verweisen uns damit aber nur auf die mit unserem Dasein grundsätzlich verbundene Unsicherheit, die wir in Zeiten der Nicht-Krise einfach verdrängen können.

In Krisenzeiten muß etwas in uns sterben, damit Neues geboren werden kann. Krisenzeiten weisen deshalb hin auf die großen Themen unseres Daseins, auf Geburt und Tod.

Üblicherweise betrachten wir Krisen, ähnlich unseren Krankheiten, als Störungen. Beide behindern den Ablauf unseres Lebens, so wie wir es uns vorstellen. Aber eigentlich sind sie keine Störungen. Krisen bedrohen uns auch nicht. Vielmehr sind es überlebte Formen unseres eigenen Lebens, die für uns bedrohlich werden.

Wer in die Krise gerät, hält in der Regel an Lebensgewohnheiten, Verhaltensweisen und Erwartungen fest, die den lebendigen Fortgang seines Daseins behindern. Dieses Festhalten gleicht einem Verlust an Lebendigkeit und Beweglichkeit. Aufgabe von Bewegung aber bedeutet Erstarrung, Tod.

Ich möchte nun auf „unsere" Krise — wenn ich das so sagen darf — zu sprechen kommen: Unsere Krise ist umfassend. Sie betrifft alle Lebensbereiche. Man denke nur an die vielen Einzelkrisen, die derzeit im Gespräch sind: Bildungskrise, Wirtschaftskrise, Beziehungskrise und und und.,. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich letztlich doch um eine einzige große Krise handelt, die sich in verschiedener Weise äußert und unsere Lebensform schlechthin betrifft: Es ist die Krise des technisch-industriellen Zeitalters.

Ich möchte nun versuchen, deutlich zu machen, was diese Krise über unsere Art zu leben sagt. Dazu greife ich einen Bereich, in dem sie sich besonders zeigt, den der Umwelt, heraus.

Das erste Hauptthema der ökologischen Krise ist das Thema Beziehung. Es geht um unser Verhältnis zu den Dingen und Wesen dieser Erde, zu den Pflanzen und Tieren, ja im Grunde zu dieser Erde, auf der wir wohnen, als ganzer.

In der ökologischen Krise zeigt sich, daß wir durch Jahrhunderte hindurch alles andere als liebevoll mit der Erde umgegangen sind. Im Grunde genommen haben wir diese Erde — unsere Wohnstatt - zum bloßen Material degradiert, das nur für uns, für unseren schonungslosen Gebrauch, zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und Wünsche da ist.

Mit unserer reduzierten Weise der Beziehung zur Erde können wir nicht länger leben. Denn mit den Dingen und Wesen der Natur, mit der Gestaltung dieser Erde ist auch unser Uberleben verbunden. Das heißt: In der ökologischen Krise werden wir uns der Selbstbedrohung bewußt, die von unserer bisherigen Beziehung zur Erde ausgeht.

In der ökologischen Krise stoßen wir auch auf unüberschreit-bare Grenzen unserer Möglichkeiten, diese Erde nach Belieben zu gestalten. Wir sind mit der Endlichkeit der Erde konfrontiert und zugleich damit auch mit unserer eigenen Endlichkeit. Das Thema Endlichkeit ist das zweite Hauptthema der ökologischen Krise.

Die Motive, die unsere Lebensform in ihrer heutigen Gestalt haben entstehen lassen, sind gar nicht so schwer auszumachen. Es ist eine verständliche Utopie, das eigene Dasein in die Hand nehmen zu wollen, Herr seines Lebens zu sein, die Dinge und Ereignisse berechnen und machen zu können.

Herrschen und machen, Sicherheit schaffen, das sind Motive, die hinter der neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihrer technischindustriellen Anwendung stehen: Der Natur nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie nutzbar zu machen, nicht mehr hungern zu müssen, den Seuchen und Krankheiten nicht mehr hoffnungslos preisgegeben zu sein, Wohlstand zu schaffen.

Jean Jacques Rousseau hat es zum erklärten Ziel der Aufklärung gemacht, „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl" von Menschen zu schaffen. Welch verlockender Gedanke: Glück verfügbar machen, herstellen, produzieren können, so daß jeder beliebig Anteil nehmen kann — alles das sind Vorstellungen, die heute noch hinter den Ideologien von Kapitalismus und Kommunismus stehen.

In der Krise unserer Zeit aber zeigt sich das Scheitern dieses Versuchs. Wohl haben wir es vermocht, alle Beziehungen zu sprengen, zu Gott, zur Natur, zur Erde, letztlich auch mehr und mehr zum Mitmenschen. Wir haben uns in einer unheilvollen An-thropozentrik gegen unsere eigenen Lebensbedingungen aufgelehnt.

Mir scheint, alle Macht, alle Sicherheit, alles käufliche Glück, aller Wohlstand, die Uberwindung unserer Endlichkeit erweisen sich heute mehr und mehr als kurzfristige Illusionen. Wir werden in den nächsten Jahren vermehrt die Erfahrung unserer Ohnmacht, der Unsicherheit, des Unglücks, des Verlusts an Wohlstand und der Endlichkeit machen.

Das ist nicht als Strafe zu verstehen. Es ist lediglich das bewußte Einholen von Erfahrungen, die schlicht und einfach zum menschlichen Leben dazugehören, und zwar unentrinnbar. Und solange wir Menschen sein wollen, wird uns nichts anderes übrig bleiben als diese Erfahrungen zu akzeptieren.

Denn menschliches Dasein enthält beide Seiten, die dunklen und die lichten, Paradies und Hölle. Oftmals oder sogar meistens sind es die schmerzlichen Situationen des Lebens, die uns reifen lassen und an denen wir unseres Menschseins bewußt werden. Wer die dunklen Seiten verdrängt, ist auch nicht mehr fähig, die lichten zu erfahren.

Wir können in der gewohnten Weise unseres Glücks nicht habhaft werden. So wir leben wollen, bleibt uns nichts, als uns durch die Krise als Menschen wandeln zu lassen.

Wichtig dafür ist als erster Schritt die Anerkennung der Krise. Das bedeutet: sich auseinandersetzen mit unserer Situation, Fragen stellen, sich inf rage stellen lassen.

Bereit sein zur Krise heißt, sich öffnen, loslassen von bisher Gewohntem und Vertrautem, vor allem von jenen Haltungen, auf denen unsere bisherige Lebensweise gründet. Hier nenne ich vor allem das Loslassen von der Macht. Vielleicht ist der Verzicht auf Macht und Machen überhaupt die Voraussetzung für eine angemessene Veränderung unserer selbst. Denn erst jenseits unseres Wollens können sich die Wesen und Dinge unserer Welt, könnten sich unsere Mitmenschen, kann sich unser eigenes Leben als das zeigen, was es ist.

Ein guter Weg für den Umgang mit Krisen ist die eigene Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber. Die Aufrichtigkeit kann dazu beitragen, Illusionen zu zerstören. Sie ist auch da noch Bedingung, wo wie Beziehungen zu gefährden oder gar zu zerstören scheint.

Aber durch solche Situationen kann hindurchgehen, wer die beständige Bemühung um Beziehung, um Gespräch, um Liebe als dritte Kraft bei sich trägt. Liebe ist Bemühung um Liebe, fortgesetzte, dauerhafte Bemühung. Vielleicht ist es ein erster Schritt, das Eingeständnis der eigenen Lieblosigkeit.

Als weitere Tugenden der Krise möchte ich die Geduld, das Erwarten-Können, was kommen wird und die Bereitschaft zur Improvisation nennen. Und als letzte Krisentugend: das Vertrauen in die Krise als Wegweiserin. Ich bin überzeugt, daß, wer wachsam und sensibel den von der Krise ausgehenden Impulsen nachgeht, mit einiger Wahrscheinlichkeit einen guten Weg finden wird.

Der Autor ist Philosophiestudent an der

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