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Durchaus kein Blattschuß

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„Kirchliche Sexualmoral macht Menschen krank!" so zieht der „Kurier" Bilanz der Ringel-Aussagen zum Thema Sex. Im folgenden eine Auseinandersetzung mit Teilen des entsprechenden Kapitels.

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„Kirchliche Sexualmoral macht Menschen krank!" so zieht der „Kurier" Bilanz der Ringel-Aussagen zum Thema Sex. Im folgenden eine Auseinandersetzung mit Teilen des entsprechenden Kapitels.

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Nach einführenden Bemerkungen über die Bedeutung der frühkindlichen Sexualität und Warnungen vor der allzu restriktiven Einstellung, die diesbezüglich in kirchlichen Kreisen vorherrsche, kommen Erwin Ringel und Alfred Kirchmayr zu Aussagen, die sich auf das Problem Selbstbefriedigung beziehen:

„Es ist einfach nicht haltbar, Masturbation als Perversion und als Abnormalität zu bezeichnen ... Bei der Entdeckung des eigenen Körpers und so auch der Sexualität ist normalerweise die Entdeckung der sexuellen Selbstbefriedigung ein natürlicher und gesunder Vorgang ... Daher sollten wir alles tun, um diesbezüglich eine Befreiung von nekrotisierenden und unnatürlichen Entwertungen dieser sexuellen Betätigung zu erreichen. Andererseits kann Selbstbefriedigung auch als J)urchgangssymptom' in der menschlichen Entwicklung bezeichnet werden..." (S. 124)

Zugegeben, in der Beichtpraxis früherer Zeiten mag Selbstbefriedigung übertrieben hochgespielt worden sein. Sich deswegen aber heute jeglicher Wertung zu enthalten, heißt das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Autoren sagen selbst an anderer Stelle, daß „Sexualität ein grundlegendes Medium menschlicher Kommunikation und Begegnung" sei. Obwohl mir auch diese Kennzeichnung zu oberflächlich erscheint, reicht sie doch aus, Selbstbefriedigung als Fehlform erkennen zu lassen. Wo geschieht denn bei der Masturbation Begegnung? Um mechanisches Erzeugen von Lust geht es dabei allein.

Weil aber genau diese (auf die eigene Lust fixierte) Haltung einem erfüllten Sexualleben im Wege steht (man lese bei Viktor Frankl nach), muß Selbstbefriedigung auch weiterhin negativ bewertet bleiben. Eltern (und Beichtvätern) bei Auftreten dieser Erscheinung mehr Gelassenheit zu empfehlen, wäre sinnvoller gewesen als diese Irreführung.

Nach totaler Liberalisierung klingt, was Ringel und Kirchmayr zum Thema Homosexualität schreiben:

„Wir sollten lernen, Menschen, die in ihrem Verhalten von der sogenannten Norm abweichen, verständnisvoll und in echter Toleranz zu begegnen. Wir möchten das am B eispiel der Homosexualität ausführen, die immer noch mit unmenschlichen Vorurteilen behaftet ist. Wir wissen heute, daß Homosexualität nicht einfach als Perversion abgetan werden kann, daß es verschiedene Arten von Homosexualität gibt.

Abgesehen davon, daß jeder Mansch, wie Sigmund Freud nachwies, homosexuelle Tendenzen hat, die in bestimmten Entwicklung sphasen und Lebenssituationen deutlich zum Ausdruck kommen, gibt es sowohl anlagemäßige Dispositionen als auch und vor allem psychische Entwicklungen, die eine homosexuelle Partnerwahl als subjektiv richtig nahelegen, oft fast erzwingen." (S. 135)

Das ist nun wirklich ein starkes Stück. Schon der erste Satz ist irreführend: Dem Christen ist aufgetragen, jedem Menschen in Liebe zu begegnen - auch dem, dessen Verhalten untypisch ist. Das hat aber mit Toleranz nichts zu tun. Den Unterschied zwischen

beidem macht der zweite Satz deutlich. Da fordern die Autoren Toleranz für ein Verhalten.

Beide Aspekte werden gerne verwechselt. Im Umgang mit Strafentlassenen ist mir der Unterschied klar geworden: Eine Freundschaft mit einem Einbrecher schließt durchaus nicht ein, daß ich seine Tat gutheiße! Achtung vor der Person eines Homosexuellen kann Hand in Hand gehen mit radikaler Ablehnung der Homosexualität.

Weiters: Wie kann man das Eintreten für Homosexualität mit der Natürlichkeit des Sexuellen ih Einklang bringen, von der vorher so viel die Rede war? Daß durch die Sexualität „natürlicherweise" Mann und Frau aufeinander zugeordnet sind, kann doch wohl niemand bestreiten.

Spätestens hier wird der Psychologe einwenden, jeder Mensch mache eine homosexuelle Entwicklungsphase durch. Schön, schön, nur — welches Geschehen wird denn mit diesem dramatischen Begriff beschrieben? Es ist die Zeit der großen Knabenfreundschaften und die der „besten Freundin", jener Lebensabschnitt zu Beginn der Pubertät, wo der Mensch die ersten Erfahrungen mit intensiven Gefühlsbeziehungen zu Nichtfamilienmit-gliedern macht. Daraus die Natürlichkeit der Homosexualität abzuleiten ist ebenso übertrieben, wie den Mädchen einen Penisneid zu unterstellen.

Und noch etwas: Die Wissenschafter sind sich durchaus nicht darüber einig, inwieweit Homose-

„Soll es uns gleichgültig sein, ob unsere Kinder ho-mo- oder heterosexuell werden?"_

xualität anlagebedingt ist. Im allgemeinen rekrutiert sich der homosexuelle Nachwuchs aus Anwerbung und Verführung. Wer da von „erzwungener" Partnerwahl spricht, bedenkt die Folgen seiner schicken liberalen Forderung nicht: Soll esjuns gleichgültig sein, ob unsere Kinder sich für ein ho-mo- oder heterosexuelles Leben entscheiden? Dürfen Eltern dazu in Zukunft etwa nicht mehr wertend Stellung beziehen?

Zuletzt noch einen Blick auf das, was Ringel und Kirchmayr zum Thema Sexualität und Ehe sagen:

„Es klingt sehr provokant, aber die Feststellung, daß eheliche Sexualität an sich positiv und außereheliche negativ wäre, ist so nicht haltbar. Es ist keine Frage, daß z.B. Selbstbefriedigung in bestimmten Situationen sozialer sein kann als ein Koitus, daß ein außerehelicher Koitus ethisch wertvoller sein kann als eheliche Pflichterfüllung' ohne Liebe, Rücksicht und Zuneigung.

Die eheliche Bindung allein sagt wenig über den sittlichen Charakter der Sexualität aus. Die Gestaltung der Sexualität in einer langandauernden Beziehung ist ein weiteres Problem, das weithin verdrängt wird, über das man zuwenig spricht und das im kirchlichen Raum besonders unterdrückt wird..." (S. 132)

Provokant? Ja, aber nur bei oberflächlicher Lektüre. Eigentlich wird Banales so aneinandergereiht, daß ein Scheinargument entsteht. Der ersten Feststellung, nicht alles, was sexuell in einer Ehe geschehe, sei positiv, wird wohl kaum jemand widersprechen. Insofern ist die provokante Aussage also trivial. Interessan-

ter wäre aber, Näheres darüber zu erfahren, wann außereheliche Sexualität nicht abzulehnen sei. Aber darauf bekommt man keine Antwort.

Dafür wird mit Vergleichen hantiert, die mit der Frage nichts zu tun haben: Was soll die Selbstbefriedigung im nächsten Satz? Wie kann sie „sozialer" sein als ein Koitus (der immerhin mit einem Partner stattfindet)? Und: Was hat das mit der Frage ehelich-außerehelich zu tun? Alles, was dieser Satzteil erreicht, ist, daß der Eindruck der Beliebigkeit sexuellen Tuns entsteht.

Soweit, so schlecht. Aber dann4' — eine Aussage zum Thema, allerdings eine inhaltsleere: wertvoller zu sein als eheliche Pflichterfüllung ohne Liebe und Rücksicht (über deren Wertlosigkeit ja Einigkeit herrscht), rechtfertigt doch den außerehelichen Verkehr in keiner Weise.

Statt kantiger Aussagen gibt es verwaschene Vergleiche und im Anschluß daran triviale „No-na-Aussagen". Diese werden noch mit einem „Schlenkerer" gegen die Kirche gewürzt: Als wäre phantasieloses Sexualleben das Problem christlicher Ehen und nicht' (bedauernswerter Weise) die allzu weitverbreitete Folge mangelnder Ehekultur!

.immer noch (wird) die Ehe als einzig legitimer Raum sexueller Betätigung angesehen und als einziges Kriterium für die sittliche Erlaubtheit des Koitus bezeichnet. Der vor- und außereheliche Verkehr gilt weiterhin als schwere Sünde. Die kirchliche These, daß als Kriterium für die Gültigkeit der Ehe der vollzogene Beischlaf gilt, kann nur als biolo-gistisches Mißverständnis der menschlichen Sexualität bezeichnet werden. Es wäre grotesk, wenn durch einen Koitus eine untrennbare Verbindung zustande käme, die nur auf einer wirklich freien personalen Entscheidung beruhen kann." (S. 139)

Die sanfte Moralunterwanderung ohne harten Kern wird fortgesetzt. Vor- und außerehelicher Verkehr soll nicht mehr schwere Sünde sein, hört man als Forderung heraus. Aber gesagt wird es nicht, das Thema nur angerissen, die kirchliche Lehre infrage gestellt — und auf das nächste Thema ausgewichen: Kritik am Beischlaf als Kriterium der vollzogenen Ehe. Doch auch hier wieder Halbheiten, die Unterstellung, der Kirche ginge es vor allem um den Beischlaf utid nicht um die freie Entscheidung.

Mit etwas mehr Wohlwollen für diese Kirche hätte man dasselbe auch anders darstellen können: Die sexuelle Hingabe ist das körperliche Zeichen für das unbedingte Ja zum Partner. (Daher sollte es ja auch nur in diesem Rahmen „gespendet" werden, um als Zeichen nicht mißverstanden zu werden.) Kann jemand ernsthaft behaupten, der Kirche ginge es bei der Ehe nicht primär um die freie personale Entscheidung? Was sollen solche lieblosen Andeutungen?

Die Kritik der Autoren an der Sexualmoral zielt mehr auf Stimmungsmache als auf echte Auseinandersetzung. Es fällt mir schwer zu glauben, daß sie „liebevoll und besorgt" gemeint ist. Jedenfalls aber ist sie oberflächlich. Schade, daß viele sie ernstnehmen werden.

RELIGIONSVERLUST DURCH RELIGIÖSE ERZIEHUNG. Von Erwin Ringel und Alfred Kirchmayr. Herder, Wien 1985. 244 Seiten, öS 248,-.

Erwin Ringel ist Professor für Psychosomatik an der Universität Wien, Alfred Kirchmayr Theologe.

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