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Eifersüchtige Verwandtschaft

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Dieses Bu????h erschien zur rechten Zeit! Jetzt, da die erste Euphorie über das Fallen des Stacheldrahtes, der die Völker Mitteleuropas durch vier Jahrzehnte gewaltsam getrennt hat, verflogen ist, nun, da die Wiederbegegnung zwischen Tschechen und Österreichern zu einer alltäglichen Möglichkeit geworden ist, war eine Bestandaufnahme geboten. Langsam dämmert es nämlich im Bewußtsein des Durchschnittsösterreichers, daß Prag von Wien nicht weiter entfernt ist als Salzburg und Bratislava/Preßburg sogar näher als Krems liegt.

Vielen Brünnern wiederum wurde nach langer Zeit in Erinnemng gerufen, daß für eine Fahrt in die österreichische Hauptstadt viel weniger Kilometer zurückzulegen sind, als wenn man sich von dort nach Prag begibt.

Es ist also hohe Zeit. nach einer sicheren Basis Ausschau zu halten, aus der sich aus dieser zunächst überraschenden Wiederbegegnung ein neues zukunftsträchtiges „Convivium" der beiden Völker in Mitteleuropa entwickeln kann.

Eine Lebensgemeinschaft, welche auch dunkle Kapitel aus der gemeinsamen Vergangenheit nicht

leugnet, die gerade aber aus diesen den Willen von einer besseren Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft ableitet. Ein Blick in die Vergangenheit ist geeignet, Bruchebenso wie Nahtstellen aufzuzeigen und zu .einer objektiven Annäherung der beiden Geschichtsbilder anzuregen. Nur so kann zum Nutzen beider Völker eine neue Gemeinschaft entstehen.

Alfred Payrleitner hat sich der Aufgabe dieser Gewissenserforschung unterzogen. Ausgangspunkt dafür bildeten - wie wäre es eigentlich anders anzunehmen - familiäre Bande sowie Kindheitserlebnisse aus Mähren. Frühe journalistische „Entdeckungssreisen" in ein damals fremd erscheinendes Land, über dessen Städte und Dörfer in jenen Jahren rote Sterne leuchteten, kamen hinzu.

Trotzdem weckten sie die Neugier für den Nachbarn. Immer mehr

drängte sich ihm die Frage auf, warum die beiden Völker, deren . Schicksale auf die vielfältigste Weise stets mit- und ineinander verzahnt gewesen waren, die im Privaten zahlreiche familiäre Bande geknüpft hatten, vor nunmehr mehr als sieben Jahrzehnten auseinandergingen und dann lange Rücken an Rucken gelebt hatten. Zu beider Schaden.

Payrleitner versagt sich nicht, nach einem ausführlichen Exkurs in vergangene Jahrhunderte die Fehlhaltungen gerade auch m der Geschichte beider ersten Republiken aufzuzeigen. Dazu gehört, den völlig ahistorischen, nur auf die Sprachgemeinschaft basierenden Anspruch „Deutschösterreichs" auf die deutschen Sprachgebiete Böhmens und Mährens, unter anderen sogar etwa auf das weit entfernte Reichenberg - ebenso wie auf das Egerland -, anzumelden.

Mit diesen illusionären Vorstellungen korrespondierte ein explodierender tschechischer Chauvinismus, der sich nicht einmal mit einem Korridor bis zum neuen Jugoslawien zufriedengeben wollte(!), sondern die weißrotblaue Grenze am liebsten bis zur Donau verschoben hätte. So nimmt es nicht Wunder, daß in den zwei J ahrzehnten zwischen 1918 uod 1938 die beiden Republiken wenig voneinander wissen wollten.

Das Ergebnis ist bekannt. Das Jahr 1938 wurde beiden zum Verhängnis. Es bedurfte keiner eindeutigeren Illustration für die Verzahnung beider Schicksale.

Das Buch will jedoch nicht nur Exkurs in die Geschichte sein, es will auch zum Nachdenken anregen, wie man es in Zukunft besser machen sollte. Verstehen Prag und Wien die Lehre? In jenem Prag Vaclav Havels, in dem man wieder 'nur hauptsächlich nach dem europäischen Westen blickt, und wo man von noch weiter, von Amerika, Jetzt wieder alles Heil zu erwarten scheint. Und Wien? Jenem Wien, dessen Außenpolitik sichderzeitauf EG-Bittgänge konzentriert.

Ein Umdenken tut not. An der Moldau genauso wie an der Donau. Noch ist es Zeit. Das vorliegende Buch soll dazu anregen.

ADLER UND LÖWE. ÖSterreicherund Tschechen. Eine eifersüchtige Verwandtschaft. Von Alfred Payrleitner. Verlag Kremayr und Schc u, Wien 1990. 224 Seiten, öS 248,-.

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