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Ein Augenblick der Empörung

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Zu berichten ist über einen Augenblick der ohnmächtigen Wut, des dumpfen Zorns, der Verzweiflung. Der Anlaß war nicht gering: das Schicksal eines Landes, begreifbar geworden durch eine einzige Bewegung einer alten Frau. Dennoch war die Heftigkeit des Gefühls verblüffend. Sie wirkte auf die Physis. Fast hätte sie Tränen in die Augen gedrängt.

Ich befand mich in Warschau, wurde von freundlichen Gastgebern im Wohnturm des Hotel Forum untergebracht, sah, roch, fühlte bereits seit Tagen die Armut eines stolzen Landes. Doch ist der Mensch ein anpassungsfähiges Wesen, nur allzu bereit, in Kenntnis der Ursachen auch die sichtbaren Zeichen ihrer natürlichen Folgen zu entschuldigen, hinzunehmen, zu übersehen. Liebenswürdigkeit ließ das Unbehagen vergessen. Nun aber befand ich mich nach einem langen Bummel, zu dem das milde Herbstwetter verlockt hatte, gegen elf Uhr abends auf dem Heimweg ins Hotel. Eine lange unsaubere Passage führte in die unmittelbare Nähe des Hotelbaus zurück.

Hier, einige Schritte vor dem Aufstieg ins Freie, stand die Frau. Sie mochte siebzig Jahre alt sein, vielleicht auch älter. Wie im Halbschlaf stand sie hinter einigen Kübeln und Kannen aus Blech, in denen ein paar Nelken steckten. Unter der Last der Blüten bogen sich die dünnen Stiele. Kaum hatte sie das Geräusch der Schritte vernommen, schrak sie auf, gewahrte den nächtlichen Spaziergänger, beugte sich mit einer flinken und liebevoll besorgten Bewegung zu ihren Blumen, um sie ein wenig zu ordnen, ihre Dürftigkeit durch ein gefälligeres Arrangement zu verbergen, richtete sich halb hoffnungsvoll und halb schicksalergeben wieder auf und nahm es stumm und würdevoll hin, daß der Passant an den Eimern und Kannen vorbeiging.

Am nächsten Morgen flog ich heim nach Wien, allerdings auf einem Umweg. Arbeiten, die abgeschlossen werden wollten, machten eine Zwischenlandung in Budapest notwendig. Die Bleibe hieß auch hier Hotel Forum. Ein Fernsehgerät stand im Zimmer, der Zeitplan gab am Abend eine halbe Stunde frei, ich drückte auf den Knopf.

Bevor das Bild auf der Mattscheibe erschien, erklang bereits ein Lied: ein Schlager der Jahrhundertwende, eine alte Melodie mit feschem und neckischem Text, gesungen von einer Stimme, die mir aus längst zurückliegenden Jahren vertraut war, und in der Tat erblickte ich nun auch die Operettendiva, die ich seit dreißig Jahren nicht gesehen hatte, etwas gealtert, aber immer noch zum

Versprühen von Charme gerüstet, erstaunlich behende, stets bereit, sich ihrem Publikum in der alten Zeichensprache einer als wirksam erkannten koketten Anmut zu nähern; und hinter der Diva -nicht auf der Mattscheibe, sondern auf der Filmleinwand, die wir, auf die Innenseite unserer Stirn aufgespannt, mit uns führen — erschien gleich auch mein Vater, der Tote, der die Schauspielerin, noch mehr allerdings ihr Lied gemocht hatte: Er hatte es beim Rasieren vor sich hingesummt und bei irgendwelchen Gelegenheiten, die mir längst entfallen waren, auch laut gesungen.

Und so ging es dann weiter. Im ungarischen Fernsehen gab es an diesem Abend offenbar eine Revue, vielleicht „Altbudapest“ betitelt, denn es erschienen, einer nach dem anderen, die Älteren, die mir bekannt waren, und die Jüngeren, die ich noch niemals gesehen hatte.

Ich blickte auf die Armbanduhr. Es war Zeit, hinunterzugehen, vereinbarungsgemäß die Freunde zu treffen.

Um einen Krawattenknoten zu binden bedarf es, in der zweiten Phase der Tätigkeit, einer schwungvollen Bewegung. Sie befördert den seidenen Gewebestreifen in die gewünschte Lage. In diesem Augenblick des Krawattenschwingens stieg — woher: aus dem Stammhirn? aus dem Zwerchfell? aus einer Hirnzelle, in der Gegenwärtiges mit Vergangenem zusammenstieß? — ein Gedanke in das Bewußtsein, gestärkt von einem Gefühl. Er hatte die Form einer Frage. Sie lautete: Wurden in all diesen Jahrzehnten Menschen gehenkt, erschossen, zu Tode geprügelt, in die Verbannung geschickt, in die innere Emigration gezwungen, ins Ausland gejagt, um dann eines Tages wieder das alte Lebensgefühl aufleben zu lassen und, sobald die Verhältnisse wieder einigermaßen konsolidiert waren, dort anzukommen, wo wir uns vor fünfzig und mehr Jahren befunden haben? Warum wurde die Welt auf den Kopf gestellt? Bloß mit dem Ziel, die alten Budapester Schlager nicht nur der verjagten Aristokratie und der gestürzten Bourgoisie, sondern nun dem neuen Kleinbürgertum zu vermitteln? Hatten die großen Ideen und das große Morden keinen anderen Zweck, nur diesen: die Lieblingsschlager meines Vaters den großen Volksmassen zugänglich zu machen?

Hier trat die Greisin in der Passage ins Gedächtnis, ihre Sorgfalt, ihre Hoffnung, ein paar Zloty zu verdienen, und ihre schicksalsergebene Resignation.

Die Frage weitete sich. Sie lautete: Da Polen im Jahre 1939 von Hitler-Deutschland angegriffen, besetzt und dann grausam verwaltet worden, im Jahr 1945 zwar befreit, aber freilich nicht zum Wohlstand gebracht und seither immer wie-' der durch Fehlentscheidungen der Machthaber dazu verurteilt worden war, kümmerlich zu leben, ja, wenn ein Land fast fünfzig Jahre lang dazu verurteilt war, Entbehrungen zu erleiden — wer trägt die Verantwortung? Warum muß die alte Frau um elf Uhr nachts hinter ihren verbeulten Eimern und Kannen in der kalten übelriechenden Passage stehen? Welche Herren in Berlin und Moskau, in anderen Hauptstädten haben das Recht gehabt, einer ganzen Generation das zu rauben, was wir seit Chateaubriand die Süße des Lebens nennen? Wer und zu welchem Zweck hat Polen erobert oder aufgegeben, besetzt oder verspielt? Mit welchem Recht entscheiden die Herren über unser Leben?

Ich band den Krawattenknoten, fuhr mit dem Aufzug hinunter, plauderte, trank und speiste, war am nächsten Tag daheim in Wien. Einer, der davongekommen ist? Die schweren Flügelschläge des mörderischen Jahrhunderts rauschen in einem monotonen Rhythmus über unseren Köpfen. Glücklich, den das Verhängnis nicht trifft.

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