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Ein Augenblick der Freundschaft

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Ich kenne einen Mann, der ist seit vielen Jahren tot. Ich schreibe: ich kenne, denn ich fange eben an, ihn kennenzulernen.

Ich habe seinen Tod zur Kenntnis genommen wie viele andere. Er kam nicht überraschend, falls man das von einem Tod überhaupt sagen kann. (Man sollte dem Tod keine Gelegenheit zu Überraschungen geben. Wir sind

ja auch nicht überrascht, daß wir am Leben sind, ein Geheimnis, das mindestens so groß ist wie das des Todes, ein Zustand, der mindestens so unbegreiflich ist wie der Tod.)

Jedenfalls waren wir auf diesen Tod vorbereitet. Es hieß, man müsse mit allem rechnen. Es könne heute oder morgen sein. Wir erhielten die Todesnachricht und trauerten nicht. Der Mann hatte gelitten. Wir sagten: Wie gut für ihn. Er muß sich nicht mehr quälen.

Wir taten, was man bei allen To-den anderer tut: wir lebten weiter.

Ein paar Jahre vergingen, in denen der Mann mir auf selt-same-Weise näher kam. So nahe, wie er mir nie im Leben gekommen war.

Wir waren uns im Leben, der gegenseitigen Sympathie sicher, mit respektvoller Distanz begegnet.

Seine Scheu war auch der Grund, weshalb er keine Briefe schrieb. (Und was hätte er für Briefe schreiben können.) Wenn er einmal schrieb, waren es zwei oder drei Zeilen, in denen mehr stand als in seitenlangen Briefen anderer Schreiber.

Er unterzeichnete: „Der Konsequenteste aus dem Volk der Nichtbriefschreiber.“

Er konnte irgendwohin sehen mit seinen unwahrscheinlich hellen Augen. Irgendwohin und durch alles hindurch.

Einmal rief ihn seine Frau laut beim Vornamen. Ich spürte ihre Angst. Sie rief ihn zurück auf die Erde, in die Stadt, in der er lebte und arbeitete, an den Tisch, an dem wir saßen. Er sah uns an, als wollte er sich entschuldigen und lächelte. Damals begann er, wegzugehen.

Heute weiß ich, daß dieser Mann, schon als ich ihn kennenlernte, mit seinem Tod umging. Daß jeder Abschied fast unerträglich für ihn war, weil er für den letzten Abschied stand.

Der Mann war verletzlich. Seine Distanz war nötig, um alles fernzuhalten, was ihn treffen konnte. Auch menschliche Zu-Neigung, Liebe in jeder Form, die er kannte. Er ertrug sie nur noch in Chiffren.

Er war ein homme de lettres. Was er über Worte zu sagen wußte, die Worte, die er für Worte fand, für Gedichte, Prosa, Dramen, vor allem Gedichte, zählen ium Schönsten, das ich gehört und gelesen habe.

Diese vollkommene Verbindung von Kopf- und Herzarbeit habe ich bei keinem anderen Menschen so erlebt.

In seinem schönen Haus am See trafen sich die Freunde.

Als wir uns das letzte Mal sahen, hatte er eine Operation hinter sich und ging am Stock.

Wir gingen langsam am Ufer des Sees auf und ab. Wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen. Die Hilflosigkeit unseres Wiedersehens stieg aus unserem Wissen, das keiner dem anderen bekennen durfte: sein Wissen um seinen nahenden Tod und mein Wissen um sein Wissen.

Den schnellsten Einstieg fanden wir immer über die Literatur. Es war September. Die Rosen hielten noch aus, dazwischen blühten die ersten Astern.

„Kennen Sie die von Benn?“

Ich nickte.

„Na-?“ sagte er.

Im langsamen Aufundabgehen sagte ich die erste Strophe.

„Astern, schwelende Tage, / alte Beschwörung, Bann. / Die (Sötter halten die Waage / eine zögernde Stunde an.“

Ich wußte nicht weiter. Er lächelte und fuhr fort:

„Noch einmal die goldenen Herden, / der Himmel, das Licht, der Flor, / was brütet das alte Werden / unter den sterbenden Flügeln vor?“

Jetzt stockte er und sah mich verlegen an. Ich wußte weiter.

„Noch einmal das Ersehnte, / den Rausch, der Rosen Du - / der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu.“

Er nickte zufrieden und sah mich aufmunternd an. Umsonst. Wir saßen beide fest und gerieten darüber mehr und mehr in Zorn.

„Daß es das gibt. Im Schlaf hab ich das gekonnt.“

„Ich auch“, sagte ich, „aber was hilft uns das jetzt?“

„Das wäre gelacht.“ Er stieß seinen Stock auf den Rasen. In seinem Zorn sah er ganz jung aus.

„Kommen Sie“, sagte ich und hätte ihn am liebsten umarmt, „das wäre wirklich gelacht. Wir müssen es zusammen versuchen.“

In tiefem Schweigen gingen wir am Ufer auf und ab. Immer wieder. Plötzlich blieb er stehen.

„Es war etwas mit ,Vermuten’“, sagte er, „ganz sicher.“ Wir gingen weiter, bis er wieder stehenblieb.

„Noch einmal ein Vermuten…“, sagte er langsam. Das war das Stichwort. Ich hakte ein:

„Wo längst Gewißheit wacht:“

Er vollendete, ohne zu stocken: „Die Schwalben streifen die Fluten und trinken Fahrt und Nacht.“

Wir blieben tief aufatmend stehen. Dieser Augenblick war Brief und Siegel auf eine jahrelange Freundschaft, die nie ausgesprochen wtirde.

Die Erinnerung an diesen Nachmittag im September befiel mich eines Tages ohne jeden Anlaß aus heiterem Himmel mit einer Heftigkeit, daß ich alk Beherrschung brauchte, um mich aufrecht zu halten. Mit der gleichen Heftigkeit überfiel mich die Trauer, die Jahre gebraucht hatte, um wach zu werden.

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