6813725-1972_48_13.jpg
Digital In Arbeit

Ein Augenblick der Liebe

Werbung
Werbung
Werbung

Sie schaute schon nicht mehr hoch, als er aufstand und das Lokal verließ. Sie wußte, daß es zu spät war, hochzuschauen, hinzublicken, ihm einen Augenblick zu widmen; dafür war es zu spät, und es war zu spät für alles. Das wußte sie jetzt wieder, als er aufstand und fortging.

Zwei Stunden vorher, da hatte ihn der nächtliche Müßiggang in dieses Viertel getrieben und schließlich hier abgesetzt, und er war ohne alle Absicht gewesen, ohne Ziel und bestimmte Vorstellung, ohne Gedanken. Nicht einmal die eine Absicht, einen erfreulichen Tag auf erfreuliche Weise zu beschließen, hatte er gehabt. Und nicht einmal fühlen hatte er müssen, daß er gut in Form war; er war es eben, nachdem er es vorher nicht gewesen war. Vorher, tagelang, und bis in den fahrigen Schlaf hinein, hatte ein kaum spürbarer Drüsenschmerz unter dem linken Ohr, durch eine ebensowenig spürbare Zahnfleischentzündung verursacht, ein stetes Unbehagen unter seinem Bewußtsein wachgehalten, das da huschend rumorte wie Mäuse unter einem Bretterboden; über Nacht nun war beides, Ursache und Folge, verflogen, und er erwachte mit jenem Gefühl der Befreitheit, das einen erst nachträglich merken läßt, wie unfrei man vorher gewesen, und ohne davon zu wissen.

Am Vormittag, zwischen anderer Korrespondenz, hatte er dann einen Dankbrief geschrieben, den zu schreiben er unmittelbar nach dem Anlaß versäumt gehabt hatte, und später, als es begonnen hatte, peinlich zu werden — irgendwelche unglaubwürdige Entschuldigungen würden zu formulieren sein —, da floh er aus dieser beginnenden Peinlichkeit in immer noch größere, indem er den Brief von Tag i zu Tag verschob, und als er den Brief nun schrieb, da lag der Anlaß schier unversehens schon über ein Vierteljahr zurück; doch er schrieb ihn nun, und er schrieb ihn ohne jede Entschuldigung, sondern bekannte sich durchaus zu seinem Versäumnis. Und ermutigt durch diese Erledigung, suchte er später am Tage einen Geschäftsfreund auf, den er durch Zögern verärgert zu haben wähnte; indes, der zerstreute vergnügt die Befürchtungen, die er gehegt: die von ihm verursachte Verzögerung habe ihrer gemeinsamen Sache nicht nur nicht geschadet, sondern genützt, indem sie jenen andern, mit dem sie in schwer durchschaubare Händel verwickelt waren, nervös gemacht und zu einem voreiligen Schritt veranlaßt habe, wodurch sie beide nun • ohne ihr Zutun in eine derart günstige Verhandlungsposition manövriert worden, wie man sie durch eigene Bemühung kaum je erreicht haben würde.

Die Sonne schien, die wenig geschienen hatte in diesem Jahr, als er nachher, schon auf dem Heimweg, einkehrte in ein Gartenrestaurant; er saß allein in dem großen Garten, die meisten der rot und weiß lackierten Stühle lehnten zusammengeklappt an der Mauer des Hauses, drinnen hörte man eine Frauenstimme schelten und dann das Zuschlagen einer Tür, und fettglänzend braun im stumpfen Grau der Kieswege zwischen den Tischen lagen Kastanien. Er trank ein Glas Bier und rauchte seine Pfeife; und einige verspätete Bienen, von dem Tabaksgeruch aufgestört, summten ihm jenen träge-behaglichen Ton ins Ohr, der sich einstellt, wenn die Lippen das Wort Spätsommer bilden.

Und so hatte ihn der nahende Abend vorgefunden und mit sich geschwemmt, die Woge des Abends, die plötzlich aufsteht aus der Glätte des Tages, sich aufwirft und dann langsam in die Nacht hinein verebbt, mit ein paar Spritzern von Gischt den nächsten Morgen erreichend und dem folgenden Tag nur schmutzigen Schaum zurücklassend, welchen die Sonne rasch wegdörrt. Er war voll von jener Heiterkeit, die durch nichts weiter verursacht ist als durch das Fehlen all jener winzigen, sozusagen mikroskopisch kleinen Peinlichkeiten, die gemeinhin das Leben trüben wie Kalk das Leitungswasser. Er war voll von solcher Heiterkeit, voll davon bis in die letzte Muskelfaser seines dreißigjährigen Körpers, und also beschwingt zum würdigsten Ausdruck des Glückes: zur Eleganz.

Und eben davon bewegt, trat er ein in das Lokal — doch das ist nur ein armes, blasses, brustkrankes Wort für die Abfolge untrennbarer Bewegungen, die ihn hineinbefördert hatten in das Lokal etwa so, wie in nobelsten Restaurants der Kellner eine Speise serviert; oder eigentlich noch weniger materiell, denn sozusagen servierte doch er sich selber. Vielmehr war es so gewesen, als sei er im Hereingehen erst entstanden, wie ein Satz sich erst unterm Sprechen bildet, wenn er keine Phrase, keine Dutzendformulierung sein soll. So war er in das Lokal gekommen: getragen von der Gewißheit, des eigenen Schwerpunkts unverlierbar innezusein und nicht aus dem Raum seiner Selbstbeherrschung zu kippen. Und er hatte noch Wein dazu-getrunken zu dem, den er anderswo schon getrunken hatte, und einmal, als er den Blick mit dem an die Lippen gesetzten Glase anhob, sah er in ihr Gesicht.

Sie, auch sie hatte Wein getrunken, weniger freilich, aber getrunken mit anderem Zugriff; und wenn sie ihr Glas zurück auf die hölzerne Tischplatte setzte, scheinbar sanft, doch nur müde: da wünschte sie zuweilen, das Glas zerspränge. Und sie blickte hinüber zu dem Tisch, wo er saß unter Freunden, mitunter die laute Runde verlassend, um ein Geldstück in den Musikautomaten zu stecken, und irgendwann später kam es, daß er mit ihr tanzte; drei- oder vier- oder fünfmal tanzte er mit ihr, er drehte und bog und wirbelte sie herum auf den wenigen Fußbreit Boden zwischen der Theke, den Tischen und der offenstehenden Doppeltüre, durch welche die Mitternacht schimmerte gleich einem Stubenlicht durch das Schlüsselloch. Und er sprach mit ihr, sprach Worte ohne Belang, ohne Absicht, ohne Zweck; unbeladene Worte; Worte so elegant wie er selber, wie jede seiner Bewegungen, mit denen er sie in den Bann geschlagen hatte, in den Bann seines Glücks.

Und für diese kurze Weile vergaß sie alles; sie tanzte zurück um all die Jahre, die in ihrem Gesicht verzeichnet standen wie Einnahmen und Ausgaben in den Papieren eines getreuen Buchhalters, zurück bis in irgendein kaum noch erinnerbares Kinderland, und noch weiter, noch tiefer zurück; und sie vergaß, daß es längst schon zu spät war für irgendein Leben der Art, wie der Mann, der sie tanzend dahin entführte, es anbot; zu spät, doch zu spät seit wann? Irgend einmal mußte etwas geschehen sein in ihrem Leben, irgend etwas, das nicht mehr rückgängig, nicht mehr ungeschehen zu machen war; irgend etwas, das damals gewiß noch kein Geschehen war, sondern erst ein unkenntlicher Anfang eines Geschehens, aber eben doch schon der Anfang, nur noch nicht offenbar: eine erste schadhafte Stelle entstand im Geweb des Glücks; jene Stelle, wo es viel später einmal reißen wird, das Geweb.

Niemand vermöchte zu sagen, wann etwas in Wahrheit begonnen hat. Ein Krieg beginnt ja nicht mit dem ersten Schuß, und der Ruin eines Hauses beginnt nicht erst damit, daß ein Stück Verputz von der Decke fällt, und ein Mensch beginnt unglücklich zu sein nicht erst dann, wenn ihm die erste Unbill widerfährt. Und so sah er in ihrem Gesicht denn auch nicht nur ihr Leben, über welches wer weiß schon wie viele fremde Menschenleben ihren Weg genommen hatten, Spuren in ihrem Leben als Spuren in ihrem Gesicht hinterlassend wie Räder auf blanker Erde; sondern er sah darin auch, was ungelebt hatte bleiben sollen, wer weiß warum ...

Viele Gesichter hatte er so schon gesehen, meist nachts in Schenken, Kaschemmen, an Hausecken, unter Torbogen, wo der Abend sein Strandgut ablädt und einem ungnädigen Morgen überantwortet; viele Gesichter, zerrissen wie die Erde eines Manöverfeldes, zerstört, vernichtet, unkenntlich gemacht; Gesichter, im Stich gelassen von denen, die irgend wann einmal die uneingeschränkten Eigentümer dieser Gesichter gewesen sein mußten, nun aber ihre Gesichter aufgegeben, ihre Gesichter verloren hatten, nunmehr unfähig oder unwillig, all dem fremden Leben, das über das eigene hinging, eben dieses, das eigene Leben, entgegenzusetzen. Sie aber tat das noch. Unter all den verworrenen Zeichen und Chiffren, die ihrem Gesichte unauslöschlich eingegraben waren, stand unversehrt ihre Schönheit; und ihm schien, als brauche er nur diesen Vorhang, gewebt aus Harm und Elend und hundertfacher Erniedrigung, beiseite zu schieben, um diese Schönheit für immer ans Licht zu bringen.

Und so, wie sie zurück und heraustanzte aus dem Leben, welches sie gar nicht mehr wegdenken konnte von sich: so vergaß nun er für eine kurze Weile, daß die Welt eine Scheibe war, eine Scheibe mit einer Oberseite und einer Unterseite, zwischen denen es keine Verbindung gab, denen gar nichts gemeinsam war, die einander entfremdet waren vom Anbeginn an durch ein undurchschaubares Verhängnis. Er wollte nicht wahrhaben, daß auch dieses Gesicht, das schon hundertfältig gezeichnet war, einmal verwüstet sein würde, und er wandte all seine beschwingte Kraft gegen diese Befürchtung; und er fühlte sich fähig, alles zu tun und alles zu lassen, was auch immer zu tun oder zu lassen sein müßte, um dieses Gesicht zu retten vor dem Ruin. Aber es gab keine Rettung, das wußte er ja, wütend und ohnmächtig wie ein Kettenhund mußte er zusehen, wie dieses Wissen stärker war als jede Bemühung, Geschehenes ungeschehen zu machen.

Noch wehrte er sich gegen dieses bittere Wissen, und als er am nächsten Morgen, mit dem Geschmack von Kupfer auf der Zunge, erwachte, da war sein erster Gedanke: wie sich zu wehren dagegen, und ob es der Liebe nicht doch gelänge, die Welt so rund zu machen, wie sie sein sollte. Doch er wußte, was den Abend zuvor geschehen war: daß er sie, an deren Rettung er jetzt dachte, nur hochgehoben hatte, und daß sie jetzt nur um so tiefer fallen würde. Er hörte auf, sich Rechenschaft darüber zu geben. Er erinnerte sich gerade noch ihres Gesichts, in dem die Schönheit noch einmal aufgeleuchtet hatte wie die Architektur eines Hauses, wenn das Feuer darin wütet und alles verzehrt hat bis auf die nackten Mauern, zwischen die der Dachstuhl funkenstiebend niederbricht; ihres Gesichts mit den ohne jedes Begehren auf ihn gerichteten Augen, unter denen, herabgelassenen Portieren gleich, ungemein groß und schwarz und fein getäfelt die Tränensäcke bis auf die Backenknochen heruntergesunken waren, oder gleich dem Kleid, das eine Frau hat fallenlassen.

Sie aber wußte, noch ehe er aufstand und das Lokal verließ, daß es zu spät war für alles, zu spät auch dafür, sich zu erinnern, wann es begonnen hatte, was hier nun so enden mußte. Und wenn er sich, ehe er ging, noch einmal umgedreht hätte, so hätte er ihr Gesicht schon nicht mehr gesehen; denn sie saß am Tisch und beugte den Kopf übers Weinglas und blickte hinein wie ein Blinder in einen blinden Spiegel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung