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Ein Besuch nach vierzig Jahren

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Das Kriegsende 1945 beendet auch die Qualen der Überlebenden des Holo-kaust. Die Gedenkstätten in den Konzentrationslagern lassen das wahre Grauen nuc erahnen.

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Das Kriegsende 1945 beendet auch die Qualen der Überlebenden des Holo-kaust. Die Gedenkstätten in den Konzentrationslagern lassen das wahre Grauen nuc erahnen.

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Seit jenem düsteren Dezembertag im Jahre 1945, an dem Ben Gurion uns in Hitlers zertrümmerter Hochburg zusammengerufen hatte, war ich nicht mehr in München. Der Zweck des damaligen Treffens war die Organisierung des Exodus der Uberlebenden des Nazi-Feuersturms.

Wir wußten von Dachau. Es lag unheimlich nahe. Aber wir besuchten es nicht, denn Ben Gurion wollte nicht länger als unbedingt notwendig auf deutschem Boden weilen. Nach wenigen Stunden verließen wir München.

Fast vierzig Jahre waren vergangen, bis mich der Zufall, oder war es die Erinnerung an den verfehlten Besuch in Dachau, nach München brachte. Zwischen Sprechengagements in Berlin und Wien lag ein unbesetztes Wochenende. München auf dem Wege und Dachau in greifbarer Nähe.

Die Fahrt zum früheren Konzentrationslager, zur heutigen Gedenkstätte, war kurz. Dachau liegt im Vorortsnetz der Münchner S-Bahn. Doch der Weg war weit, wie zu einer anderen Welt.

Am Bahnhof warteten wie üblich Autobusse auf die Ankommenden. Ein Bus zum Lager hielt dort nicht. Außer einem kleinen Anschlag, daß die Gedenkstätte seit dem 1. Januar 1984 jeden Montag für Besucher geschlossen ist, deutet nichts auf ihre Nähe hin.

Eine Gruppe junger Menschen mit besorgter Miene und schwerem Rucksack erkundigte sich nach einem Verkehrsmittel. Ich schloß mich ihnen an. Eine ältere Frau wies mit sichtlichem Unbehagen und einer gleichgültigen Handbewegung auf eine Bushaltestelle an der übernächsten Ecke in einer Seitenstraße.

Fahrer und Gefährt, beide in fortgeschrittenem Alter, machten den Eindruck, sich widerstrebend einer unangenehmen Pflicht zu unterziehen. Nach kurzer Fahrt durch alte und neue Wohnviertel verkündete der Fahrer die Ankunft an der Endstation. „Zum Konzentrationslager, alle aussteigen”, rief er mit Kommandostimme.

Anders als Auschwitz ähnelt das heutige Dachau eher einer wohlgeordneten, sauberen, sterilen, aber geräumten Quarantänestation. Es weist keine physischen, menschlichen Anzeichen seiner früheren Insassen auf. 206.200 sollen es im ganzen laut „amtlichen Eintragungen” gewesen sein. Und wer weiß, wie viele Zehntausende mehr „unamtlich” ermordet wurden.

Dachau ist anschaubar und übersichtlich. Eine rekonstruierte Wohnbaracke steht allein auf dem weiten Gelände, wo früher in 15 Baracken bis zu 25.000 Menschen zusammengepfercht waren.

„Einnahmenverlust”

Auch die wiederhergestellte Inneneinrichtung kann der beflissene Besucher betrachten: die Schlaf statten mit ihren drei übereinanderliegenden Holzverschlägen, die offenen Reihenklosetts und die Lagerverordnungen an den Wänden, eine drakonischer als die andere. Alles schön geputzt und ausgelüftet.

Was sich dort an Grauen und Verwesung abgespielt hat, überläßt man der Vorstellung des Besuchers oder seiner Ansicht der im Museum ausgestellten Fotografien.

Dachau ist als Gedenk- und vielleicht auch als Lehrstätte gedacht. Ist es aber auch eine Mahnstätte? Was wußte die Umwelt von dem Geschehen in der Schreckensstätte, nur 15 Minuten von Dachaus Stadtzentrum entfernt? Absolut gar nichts, wie die

Leute, die wir in Deutschland unmittelbar nach Kriegsende befragten, uns beteuerten.

Keiner hatte die abgezehrten Gestalten gesehen, die jeden Tag durch das Lagertor mit der ermunternden Aufschrift „Arbeit macht frei” zur Sklavenarbeit zogen.

Auch nicht in der benachbarten Porzellanfabrik, deren Leitung einen Entschädigungsanspruch beim Lagerkommandanten einreichte?

Die Verringerung der Anzahl der Häftlinge, die täglich zur Arbeit geschickt würden, so heißt es in dem Schreiben, habe der Firma einen monatlichen Einnahmenverlust von über hunderttausend Reichsmark verursacht. Die Fa-, brikleitung'könne die wegen Typhus ' verhängte Lagersprerre nicht als gültigen Grund für das Ausbleiben der Arbeitskräfte anerkennen.

Das Krematorium, diskret am Außenrand gelegen, arbeitete jahrelang mit voller Kapazität. Die Anlage war zuverlässig. Der Brennstoffverbrauch war niedrig und die Leistung hoch.

Die Firma „Cori Berlin Abfallsvernichtung” lieferte, was sie in ihrem Angebot versprochen hatte. Man konnte sich auf sie verlassen. Hätten sich doch, so hieß es in der Offerte, die von ihr im besetzten Polen errichteten Anlagen im Ubermaß bewährt.

Am Wege vom Krematorium zum Ausgangstor stehen die Andachtsstätten, drei christliche, eine internationale und eine jüdische. Einzeln und einsam stehen sie nebeneinander.

Trost spenden

Können sie Trost spenden in dieser trostlosen Einöde? Bieten sie Erbauung in dieser Stätte des Verfalls? Stärken sie den Glauben an die Menschheit in diesem Abgrund der Unmenschlichkeit?

Die Antwort liegt im persönlichen Empfinden jedes einzelnen. Wenn diese Stätten die Erinnerung an die grauenhaften Ereignisse wachhalten und den Entschluß stärken, sie nie wieder geschehen zu lassen, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt.

Der Autor ist ehemaliger Staatssekretär im israelischen Außenministerium und Botschafter bei den Vereinten Nationen.

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