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Ein bisserl mehr?

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Unser Parlament entwickelt sich vom Redeparlament zum Arbeitsparlament. Nach der Zeit des „National Government“ von 1955 bis 1966 folgte die Periode der großen Koalition (1955 bis 1966), in der die wesentlichen Entscheidungen erst recht wieder nicht im Parlament gefaßt wurden, sondern in vorgeordneten Gesprächen, Kontakten und Beratungen. Das Parlament wurde zur Abstimmungsmaschine disqualifiziert; manche sprachen sogar von einer „Quatschbude“.

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Unser Parlament entwickelt sich vom Redeparlament zum Arbeitsparlament. Nach der Zeit des „National Government“ von 1955 bis 1966 folgte die Periode der großen Koalition (1955 bis 1966), in der die wesentlichen Entscheidungen erst recht wieder nicht im Parlament gefaßt wurden, sondern in vorgeordneten Gesprächen, Kontakten und Beratungen. Das Parlament wurde zur Abstimmungsmaschine disqualifiziert; manche sprachen sogar von einer „Quatschbude“.

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Als 1966 die erste Einparteienregierung der Zweiten Republik gebildet wurde, steigerte sich die Intensität des parlamentarischen Geschehens sprunghaft.

Die Nachfrage nach politischer Information zwang auch bald die Massenmedien zu immer eingehenderer und ausführlicherer Berichterstattung gerade über das parlamentarische Geschehen, da ja der vorparlamentarische Entscheidungsprozeß zum Großteil weiterhin unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinde!.

Damit ist auch eine Aufwertung des Status des einzelnen Abgeordneten verbunden. Aus dumpfer Fraktionsdisziplin der Koalitionsära tritt er ins Rampenlicht der Öffentlichkeit; und was vordem niemand gestört hatte, wurde plötzlich zur peinlichen Tätsache: das Parlament ist über-altet, es sitzen zu viele Hinterbänk-ler im Nationalrat und zu wenige

Fachleute. Wohl hat die Anzahl der Abgeordneten aus der Arbeiterschaft zugunsten der Angestellten abgenommen, bei den Vertretern der Bauernschaft aber zeigt sich bereits eine verfestigte Überrepräsentie-rung. Anderseits werden die mehr als 50 Prozent weiblichen Wähler nur durch unverhältnismäßig wenig weibliche Abgeordnete vertreten.

„Ochsentour“

Die berühmt-berüchtigte „Ochsentour“ (das langsame und zähe Hinaufdienen in einer Partei zwecks Erlangung eines Mandates, quasi als Belohnung) hat heute sicherlich weitgehend ausgespielt; dennoch liegt, was die Kandidatenaufstellung betrifft, einiges im argen.

Ersitzung von Mandaten durch Parteitreue, Erstarrung und Versteinerung der Abgeordnetenstruktur, die praktische Unmöglichkeit, einen Parlamentarier wieder loszuwerden und die Dominanz der Parteiapparate werden als Hauptgründe der Misere angegeben.

Zahlreiche Autoren haben sich mit dem Problem einer effizienteren Kandidatenauslese beschäftigt und ihre Vorschläge kreisen immer wieder um einige wesentliche Hauptforderungen:

• Vorwahlen (zwar nicht in Form der nordamerikanischen Primaries, aber in einem auf österreichische Verhältnisse anwendbaren Modus);

• Altersklauseln für Politiker (nicht ganz unumstritten, aber immerhin von SPÖ und ÖVP bereits eingeführt);

• Auswahlkriterien und Kandida-tenschulung. In diesem Zusammenhang wird eine Kandidätenaus-wahl gefordert, die sich an der Führungskräfteselektion in der Wirtschaft orientiert, gekoppelt mit permanenten Schulungen der Parteifunktionäre und Kandidaten;

• Wahlrechtsreform derart, das Listenwahlrecht durch Akzentsetzung in Richtung Persönlichkeitswahl zu modifizieren;

• ein effizientes Parteiengesetz, das innerparteiliche Vorgänge der Öffentlichkeit transparent machen soll.

Tatsächlich hat sich an der Kandidatenaufstellung der drei im Parlament vertretenen Parteien bislang nicht viel geändert:

• in der SPÖ entscheidet der Bun-desparteirat, die Landesparteivertre-tungen sind zuzuziehen;

• in der ÖVP ist das jeweilige Lan-desparteipräsidium zuständig und

• in der FPÖ bestimmen ebenfalls die Landesparteivorstände, wobei allerdings der Bundesparteivorstand ein Abänderungsrecht genießt.

Allerdings ist es der SPÖ 1968 gelungen, das sogenannte Bundespräzi-puum durchzusetzen; demnach können für ein Fünftel der Plätze auf den Kandidatenlisten „Personen vorgeschlagen werden, deren Wahl ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz im Interesse der Arbeit des Nationalrates und einer ausgewogenen Zusammensetzung des Nationalrates notwendig ist“. Mithin ein Schritt, Fachleute ins Parlament zu bringen, keineswegs aber ein Beitrag zur Demokratisierung der Kandidatenauslese.

Die ÖVP hat im Juli 1972 ebenfalls durch Abänderung ihres Statuts ein Vorschlagsrecht der Bundesparteileitung für 10 Prozent der Kandidaten beschlossen. Weiters wurde gleichzeitig — nach einigen Vorwahlexperimenten — die Möglichkeit zu Vorwahlen auf unterer Ebene statutarisch verankert. Inwieweit die neugegründeten politischen Parteiakademien zur Steigerung von Qualität und Effizienz beitragen werden, kann im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden.

Große Schweiger

Bedingt durch die Aufstockung der Volksvertreter von 165 auf 183, wie auch durch das Bemühen der Parteien, sich durch den forcierten parlamentarischen Einsatz junger Abgeordneter ein jugendlich-modernes Image zu verschaffen, hat sich die personelle Besetzung des Nationalrates sowohl im März 1970 wie auch im Oktober 1971 stark geändert.

Nachstehend werden die Aktivitäten der am 4. November 1971 erstmalig angelobten Abgeordneten (21 SPÖ, 11 ÖVP, 4 FPÖ) für den Zeitraum 4. November 1971 bis 5. Juli 1972 (36. Sitzung) untersucht.

Wer meint, daß gerade diese „Jungen“ im letzten Arbeitsjahr eine gesteigerte Aktivität entwickelt hätten, wird aber doppelt enttäuscht: Zum einen, weil sich unter den „Neuen“ viele Altbekannte befinden und zum anderen, weil es offensichtlich bereits unter den „Jungtürken“ große Schweiger zu geben scheint. Mit dem Sauerteig ist es — soweit es vor allem die Regierungspartei betrifft — vorderhand nichts.

So findet sich in den Reihen der Regierungspartei neben den Neuzugängen Rösch und Sinowatz auch der Präsident des Wiener Stadtschulrates, Dr. Schnell, dessen parlamentarisches Debüt sich auf einen Sitz im Unter-richtsausschuß und eine Wortmeldung beschränkt. Der Abgeordnete Kittl (Beamter der Salzhurgischen Landesregierung) ist lediglich Mitglied eines Ausschusses und hat bisher im Plenum überhaupt noch keinen Mucks von sich gegeben; der Abgeordnete Stögner scheint wiederum nur zweimal als Berichterstatter auf, und die Bilanz des rührigen SPÖ-Zentralsekretärs Fritz Marsch (eine Wortmeldung und eine mündliche Anfrage) ist eher enttäuschend. Die Jungabgeordnete Edith Dobesberger trat nur einmal als Be-richterstat'terin in Erscheinung, ihr Kollege, Abgeordneter Kunstätter, war mit einer Anfrage besonders bescheiden und der Abgeordnete Tonn brachte es nur auf drei mündlichs Anfragen.

Auch wenn wir schriftliche und mündliche Anfragen berücksichtigen (sie haben, wenn sie von Mitgliedern der Regierungspartei kommen, ohnehin meist nur Entlastungs- oder Alibifunktion), so zeigen die Jungen der SPÖ durchwegs unterdurchschnittliche Arbeitsleistungen: lediglich zwei der 21 Neuen zeigten parlamentarischen Fleiß: Parlamentssekretär Dr. Heinz Fischer und Doktor Edgar Schranz.

Auch die elf Newcomer der ÖVP setzen sich nicht nur aus politischen

Jungtalenten zusammen. Es finden arbeiter mit durchschnittlich sich bekannte Namen wie etwa Dok- 10,5 Wortmeldungen weit über den xor Gasperschitz, Dr. Lanner und Sozialisten mit nur 1,74; die ÖVP

Friedrich Hahn. Absoluter Rekord- hält mit 4,73 im Mittelfeld, halter ist ein „politisches Wickel- Womit die Neuen in der FPÖ bekind“, Prof. Ermacora, der es auf 17 Wortmeldungen, acht Anfragen und fünf Anträge brachte; wahrlich ein kräftiger Säugling!

Auch ÖAAB-Jungtorpedo Doktor Schwimmer konnte mit acht Wortmeldungen, acht Anfragen und vier Anträgen seine Kandidatur mehr als rechtfertigen.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die gesteigerte Aktivität der ÖVP in erster Linie auf ihre Oppositionsrolle zurückzuführen ist; dennoch aber drängt sich der Verdacht auf, daß die Sozialisten bei Auswahl ihrer Kandidaten etwas oberflächlicher gewesen sind (oder aber durch den unerwartet hohen Wahlsieg einige Zufallstreffer passiert sind?).

Bei den Freiheitlichen bietet sich das gewohnte Bild. Gezwungen, das personelle Manko durch gesteigerten parlamentarischen Einsatz wettzumachen, liegen die blauen Schwerstätigen, daß parlamentarische Aktivität in Österreich verkehrt proportional zur Größe der Mannschaft sein kann. (Der imagemäßige Erfolg dürfte den Freiheitlichen wohl rechtgeben!)

Man soll nicht in den Fehler verfallen, die Bedeutung und den Einfluß eines Politikers allenfalls an der Zahl seiner Wortmeldungen zu messen. Insbesondere durch die oben erwähnten personellen Rückkopplungen zu den Verbänden gibt es eine nicht geringe Zahl von sehr einflußreichen, wenn auch parlamentarisch eher unscheinbaren Persönlichkeiten.

Der Parlamentarismus aber, dessen conditio sine qua non die politischen Parteien ausmachen, steht und fällt mit der Qualität seiner Repräsentanten. Darf's ein bisserl mehr sein?

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