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Ein Brief aus großer Entfernung

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Käte setzte sich an den Tisch, um an ihre Tochter zu schreiben, sie schrieb: „Liebe Elfriede, es drängt mich, Dir heute zu schreiben, weiß ich doch, wie alle Vorgänge hier in Deinem Geburtsort Dich immer noch interessieren. Ich war vor wenigen Tagen in der Stadt, es war wirklich fast unerträglich heiß, während der Rückfahrt wurde mir dann doch tatsächlich schlecht. Ich fühlte mich so schwach, daß ich mich nach der Ankunft hier zuerst einmal in unseren einzigen Gasthof setzte. Schließlich kam der Wirt. Du weißt, wie oft ich mich über ihn geärgert habe, weil er sich zu wenig um seine Kinder gekümmert hat. Er stand so merkwürdig da, verloren irgendwie und hüf-los, die paar Gäste sagten etwas zu ihm, in dem Sinne, er solle bei einem Ausflug mitfahren, er lehnte ab, er habe keine Zeit, das Geschäft ließe das nicht zu, dabei grinste er eigenartig, entblößte sein schadhaftes Gebiß mit den

Zahnlücken, und ich starrte ihn an, wie, ich kann Dir nicht sagen, wie ich ihn anstarrte, ich konnte meine Augen einfach nicht von ihm wenden.

Ich weiß noch, was ich dachte: Jetzt wird er alt. Und dann: Er ist nur dumm. Seine Grobheit kommt aus der Dummheit. Aus der Hilflosigkeit. Vom Vater das Prügeln gelernt. Gesehen, wie der Vater die Mutter taub und stumm geprügelt hat. Taubstumm geprügelt. Gefühllos geworden zum Selbstschutz. Nie fähig gewesen, eine menschliche Beziehung aufzubauen. Aus Dummheit nicht imstande, sich zu befreien aus den Verheerungen seiner Kindheit, das Elend weitergegeben an die eigenen Kinder.

Ich ging dann bald nach Hause, auf seltsame Welse bewegt. Und heute ist die Beerdigung. Er starb ganz plötzlich, vor drei Tagen. Ich kann nicht zum Begräbnis gehen, ich kann den Jammer seiner Frau nicht mitansehen.“

Hier unterbrach Käte ihren

Brief, lehnte sich zurück und blickte durch das Fenster in den spätsommerlichen Garten hinaus. Sie seufzte und wollte den Brief fortsetzen. Um leichter den Anschluß an das bisher Geschriebene zu finden, begann sie, den angefangenen Brief durchzulesen. Sie stockte beim ersten Satz: „Es drängt mich.“ Ich lüge, dachte sie, es drängt mich überhaupt nicht. Ich will ihr nicht schreiben. Warum läßt sie mich nicht in Ruhe? Käte dachte an die letzten zwei Jahre zurück, an die wütenden, haßerfüllten, unablässig aufeinander folgenden, mörderischen Auseinandersetzungen. Gestern noch hatte sie gedacht: Sie hat mich umgebracht. Seit Jahren hat sie versucht, mich umzubringen. Sie hat es geschafft. Heute aber schreibe ich: „Es drängt mich.“ Will ich sie belügen? Versuche ich, mich zu belügen? Schreibe ich, schreibe ich ihr so, weil ich mich einsam fühle? Sie fühlte sich nicht einsam, sie fühlte sich nur ihrer Tochter verbunden, immer. Sie griff wieder zum Kugelschreiber und setzte ihren Brief fort:

„Ich habe mich geirrt, es ist nicht das Elend dieser Frau Eva-Maria, das mich abhält, zum Begräbnis zu gehen. Es muß anders sein, ich kann es mir nur schwer erklären. Es hat mit mir zu tun, glaube ich. Ich fühle mich betroffen, so sehr betroffen, daß ich nicht zum Begräbnis gehen kann. Ich kann diese Frau nicht sehen. Ich will diese Frau nicht sehen. Sie ist ich. Ich bin sie. Sie hat ihre Kinder im Stich gelassen. Ich habe meine Kinder im Stich gelassen. Sie hat alles wegen des Geschäftes getan, immer nur das Geschäft, zuerst das Geschäft, blind gemacht vom Geschäft, taub geworden durch das Geschäft, schlaflos vom Geschäft, kinderlos aus dem Geschäft zurückgeblieben. Für jedes Kind ist ein Erbe da. Die Kinder für das Erbe sind nicht mehr da. In die Welt gegangen. Egoisten geworden. Ich bin nicht besser dran als diese Frau. Du bist nicht besser dran als diese Kinder. Der Unterschied: wir wissen es. Vielleicht ist das eine Chance.

Ob sie auch eine Chance hat, diese Eva-Maria?

Der Name ist wie ein Omen. Die erste Frau der Schöpfungsgeschichte, die erste Frau des Neuen Testaments. Wir haben uns beide, Du und ich, von der Kirche entfernt, weit entfernt, dennoch, ich werde diese Kirche nicht los, oder sie wird mich nicht los. Ein Name wie Eva-Maria führt mich, ob ich es will oder nicht, wieder zurück ...“

Käte wurde unterbrochen, eine Freundin kam zu Besuch, vollgepackt mit Sorgen. Auch sie: „Ich habe ein schlechtes Gewissen.“ Käte lacht, verdreht die Augen, sagt: „Du wärst die einzige Frau weit und breit, die kein schlechtes Gewissen hätte.“ Die Freundin geht.

Nach dem Besuch vollendete Käte den Brief an ihre Tochter, sie setzte nur noch wenige Schlußworte und fügte hinzu: „Es hat mich gedrängt, Dir diesen Brief zu schreiben.“

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