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Ein deutscher Versuch, Osterreich zu verstehen

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Vielleicht ist es gut, ich fange von rückwärts an? Vom Ende her wird meistens der Anfang deutlich. Erst zum Schluß wird immer sichtbar, was war. Als wir nämlich ganz zum Schluß dieser Reise wieder in Frankfurt einfuhren, es war später Nachmittag, rush hour, und wir eher müde, stumm, etwas mißmutig: dieses melancholische Versacken und Verschmerzen schöner Erinnerungen, die nun eben zu Ende sind, da — ich glaube, es war schon in Niederrad auf der Mörfelder Landstraße —, da mußte ich plötzlich in unsere Stille hinein schallend lachen. Weiß du, was uns fehlt? sagte ich. Weiß du, was wir vermissen? Uns fehlt die Kunst!

Wir fahren und fahren. Wann kommt endlich eine Barockkirche, ein Schloß, ein fürstliches Portal? Ich sehe nichts als mickrige Mietshäuser, Kleinkramläden, Schnellreinigungen, Gebrauchtwagenschuppen, Bockwurst-Wohnwagen, Hessens Plastikkultur. Es ist alles so kantig und viereckig hier: eine schäbige Stadt, unser Frankfurt. Aus welch fürstlichen Welten kommen wir? Nicht einmal auf der Hauptwache steht eine Pestsäule in schöner barocker Verdrehtheit. Wie arm wir doch sind, wir Restdeutschen!

Wer aus Wien zurückkehrt, wird immer zunächst diesen Kunstverlust verbuchen. Ein Rausch der Sinne versackt, ein Schatzhaus klappt zu. Es ist, als ob man aus einer glanzvollen Theateraufführung plötzlich wieder ins sogenannte wirkliche Leben zurückkäme: blöde Ernüchterung. Es ist aber auch Erleichterung dabei, eine Art Aufatmen. So schütteln sich Pudel das Wasser ab. Es lebt sich doch leichter ohne die dauernden Drohungen der Vergangenheit. War Wien eigentlich schön? Schön schon, möchte man sagen, aber sehr fremd, oftmals ratlos machend. Wien ist eine immerwährende Einschüchterung für Fremde. Wer ist das wieder? Was hat der gemacht? Bist du sicher, daß es nicht Johann Strauß, nicht Fürst Metternich war? Er hat nur die Schiffsschraube erfunden? Na, Gott sei Dank! Mari kann in dieser Stadt nicht zum Zei-tungskaufen, zum Tabakholen gehen ohne an der Häuserwand, steinern, den hehren Mantel der Geschichte zu streifen. Das belastet.

Dabei fing es nicht großartig an. Es lag eine drückende Schwüle über der Stadt, als wir einfuhren. Ein grauer Himmel, Gewitterwolken, die nach großer Entladung aussahen. Gereizte Nervosität der Autofahrer, die hier noch etwas rabiater und aggressiver rasen als die in der Bundesrepublik. Wenn immer keine Zeit haben, im Terminkalender herumblättern — ein Zeichen von Weltstadtrhythmus sein sollten — ich. bin nicht so sicher —, so ist Wien heute wieder eine Weltstadt. Obwohl es sich so weich, so gemütlich, so herzig-verschlampt gibt, auf Prospekten, ist es im Grunde eine kalte, ja harte Stadt. Verzuckerte Bosheit erwartet den Fremden. Doch so etwas weiß man erst hinterher.

Der erste Eindruck ist Staub. Es ist alles so staubig und ziemlich schmutzig hier. Die alten, grauen Hausfassaden, die vielen Fenster, in die man nicht sehen kann, weil sie niemand reinigt. Erblindet und stumpf die alte Pracht. Kein de Gaulle wusch ,sie rein. Es riecht nach Muskat, also Balkan an manchen Ecken. Die Gerüche des Orients, die sich vom Naschmarkt ausbreiten, auch Zimt ist dabei. Wien ist heute eine sehr moderne Stadt, und doch ist es, wenn man aus der Bundesrepublik kommt, als wenn man um Generationen zurückdrehen müßte: sagen wir Mitte der zwanziger Jahre, Wien ist eine sehr westliche Stadt, und doch riecht man schon Osten, Sozialismus-Müdigkeit weht herein. Die Stadt ist wie die FDP bei uns: nach allen Seiten offen.

Österreich an sich war mir nie wichtig gewesen. Ja, ein Ferienland, eine grüne, blaue Urlaubsoase, drei Wochen lang, fröhliche, dumme Sommergeschichten zwischen

St. Wolf gang und Salzburg, lauter Operettenkulissen, aber sonst? Sonst schien mir Österreich immerhin dreißig Jahre lang ernster Rede nicht wert. Darf ich es sagen? So ein bißchen schien es mir schon unter meiner Würde — als Deutschem.

Ich glaube, es war ein politischer Aspekt. Er hing mit der DDR zusammen, noch ein deutscher Staat. Es hing auch mit Berlin zusammen. Schließlich haben die Wiener einmal die gleiche Situation gehabt wie die Berliner. Ganz Österreich war einmal wie Deutschland viergeteilt. Wien war auch eine Viersektorenstadt und ist es heute nicht mehr. Wie haben sie das geschafft? Österreich ist immerhin das einzige Land auf der Welt, das die Rote Armee nicht nur eroberte, sondern auch wieder verließ. Welch ein Wunder und Exempel der Weltpolitik. Das kann einem Deutschen, den die glücklose Entwicklung der deutschen Frage nach 1945 bewegt, nicht ganz gleichgültig, sein. Es ging mit den Sowjets offenbar auch anders, hier nämlich, und wie, bitte? Das war es. Es war in meine Neugier so etwas wie brüderlicher Neid gemischt, vielleicht auch ein Hauch von gesamtdeutscher Wehleidigkeit? Tu, felix Austria, nube! Warum gibt es eigentlich keine felix Germania? Mein Gott was für Fragen? Deutsche Fragen.

Man merkt in dieser Stadt bald, was uns trennt, uns fremde Brüder, uns uralte Reichskinder. Es ist der schlichte deutsche Glaube, daß die beste Verbindung zwischen zwei Punkten die gerade Linie sei. Das ist unsere Wahrheit und unser Unglück. Preußens Wahrheit, Deutschlands Unglück, Kantische Logik: die deutsche Direktheit, die Rechtwinkligkeit aller Piefkes. Hier ist alles verwinkelt, verschlungen, verschachtelt. Wien ist ein Labyrinth, ein Dschungel von Andeutungen mit Vieldeutigkeit. Wien ist ein Tanz purer Möglichkeiten mit vielen ironischen Schleifen und höflichen Rücktritten.Das stimmt immer zu, das weicht immer aus, das mischt sich ein, hält sich raus, kehrt zurück, behauptet plötzlich das Gegenteil, aber bitte: Wenn Sie meinen, es kann auch anders sein — oder? Es gibt keine Kanten, an denen man sich festhalten könnte. Es ist alles gebogen, gerundet, schwingend, verschwebend. Nichts ist dingfest zu machen. Der Boden ist glatt, Rutschgefahr. Ein Gefühl von Schmierseife stellt sich ein, oder soll ich sagen: Schlagsahne? Du wirst die Stadt niemals fassen. Zugreifend ist sie dir wie ein sehr schöner Traum schon wieder entglitten.

Wien ist ein süßes Gift: Traumstadt und schöner Schein.

Merkwürdig, das an sich selbst zu erfahren, wie das Leben, das ja so glanzvoll nicht ist, sich erhebt und langsam zu schöner Kunst zerfällt. Alles wird Bühne, Auftritt, Szene. Wenigstens der 1. Bezirk ist eine einzige Selbstinszenierung österreichischer Geschichte, die taumeln macht: eine große Oper in Stein, die Arien des - Imperialismus einmal: der Michaeiertrakt, die Stallburg, der Schweizerhof, der Leopoldinische Trakt, die Zuckerbäckerstiege und die Lakaienstiege — laß sein! Nichts für dich. Man blickt nach oben, sperrt immer den Mund auf, verwechselt auch manchmal irgendwelche Prinzen und Fürstbischöfe. Was soll's? Laß sein.

Eine Pralineschachtel süßer Erinnerungen ist die Altstadt: hier wohnte Schubert, hier Mozart, hier lebte doch Grillparzer, dort Beethoven. So wird man mit Kunst durch die Straßen geschleift, unbarmherzig. Es steht überall fein säuberlich angeschrieben, von Rilke bis Hofmannsthal: gold auf weiß ,Wien, eine Stadt stellt sich vor'. Was ist Wien? Ein alter Narziß, der dauernd sagt: bin ich nicht schön? Bin ich nicht immer noch wunderschön? Jeder Droschkenfahrer auf seinem Fiaker ist kein Kutscher. Er ist der Darsteller eines Kutschers. Er zieht mit seinem zerschlissenen Zylinder dauernd Wienstücke ab für Fremde. Jeder Hotelportier ist ein Hofschauspie-ler a. D. Er buckelt, er ist sehr servil,was man hier liebenswürdig nennt. Er überschüttet den Fremden mit flinken Artigkeiten und vielen Titeln, die nur so herausfallen aus seinem verbrauchten Mund: Herr Professor, Herr Doktor, Herr Hofrat und zischt dabei zwischen den Zähnen den Götz von Berlichingen-Fluch. Verzuckerte Bosheit ist das. Mein Fall nicht.

überhaupt, was ist das für ein Volk, das statt ich immer i sagt. Auf welcher Stufe der Kindheitsentwicklung ist es stehengeblieben? I will mei Rua habn! Und wie sie hier mit einem einzigen Wort jonglieren können, etwa mit dem Wort ,bitte' beim Obsteinkauf. Mindestens zwölfmal kommt es bis zur Übergabe des Kilos Pfirsiche. Und als Literat muß man einräumen: jedesmal hat das Wort eine andere dramaturgische Funktion. Keinmal ist es plumpe Wiederholung. Zunächst wird es verlockend, zum Kauf einladend gebraucht. Etwas Flehendes liegt noch darin. Dann wird es im Ton der Befriedigung sozusagen als Bestätigung des Kaufvertrages gesagt. Dann folgen zwei, drei ,Bitte', die sich während des Pfirsichabwiegens sozusagen als Pausenfüller anbieten, die ,Bitte' schwanken jetzt unentschieden hin und her. Dann bei der Übergabe der Tüte ein sehr bestimmtes, dann bei der Rückgabe des Wechselgeldes eine ganze Serie von kleinen ,Bitte', die mit den Schillingen fallen wie scheppernde Münzen. Schließlich ein letztes ,Bitte', in dem schon eine gewisse Schärfe schwingt, ein Ton der Abweisung. Hau ab! heißt das auf hochdeutsch. Die Sache ist gelaufen. Der nächste — bitte!

Ja, meine lieben Wiener. Ich will ihnen zu nahe nicht treten, aber hier draußen wird schon etwas klar, mir wenigstens: Probleme werden nicht angenommen und durchgestanden. Sie werden ästhetisiert. Man macht in Wien ein Kunststück aus allem. Drei, vier: ein Lied zuletzt: süffig und schön. Schelmenstreiche der Realitätsverweigerung könnte man sagen. Auch: Leben als Lippenkunst. Auch: Konflikte als Wortmusik. Welch eine raffinierte Taktik, mit der Wirklichkeit fertig zu werden. Uralte Tradition einer Stadt. Sie spielt Barock-Theater, immer noch. Das Leben ist nur ein Traum, der sich erinnern läßt.

Ich fasse zusammen, was ich sah, beobachtete, erfuhr in gut vier Wiener Wochen. Ich sah, daß die Österreicher eigentlich eine ganz andere, fremde Nation sind. Die gemeinsame Sprache täuscht. Konstantinopel liegt ihnen mit Sicherheit näher als Hamburg. Sie sind viel älter, erfahrener, viel weiser im Umgang mit anderen Völkern. Uralte Habsburg-Erfahrung, mit den Völkern des Ostens lebend. Sie waren immer auf den Balkan, die slawischen Völker fixiert. Die Russen? Für sie war das nichts Neues. Angst vor dem Koloß der Sowjetmacht, die da auf sie zurollte? Aber sicher: die haben sie auch gehabt. Die Österreicher sind ja nicht gerade Helden im Widerstand. Nur, sie zeigten sie nicht. Sie gingen nicht gleich in Abwehrhaltung. Sie versteiften und verkrampften sich nicht in steilen Gebärden totalen Widerstandes wie Konrad Adenauer damals.

Das Experiment Staatsvertrag, das als Kern die Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität in sich trägt, ließ sich nur in der bescheidenen geographischen Größenordnung dieser jungen Republik für alle relativ gefahrenlos ansetzen. Wer sagte das wieder? Österreich ist das Land des Westens, dem die Sowjets ein Minimum an Mißtrauen und die Amerikaner ein Maximum an Vertrauen entgegenbringen. Tu felix Austria! Nur so ließ sich zwischen den Weltblöcken diese Wippe der Blockfreiheit installieren. Das Experiment darf man heute als gelungen bezeichnen. Der Staatsvertrag war seine Grundlage. Er wurde von allen Unterzeichnern peinlich respektiert. Die Rote Armee zog sich zurück, die Freiheit kehrte wieder ein. Auf dieser Grundlage begann in den sechziger Jahren der ökonomische Aufschwung, das österreichische Wirtschaftswunder genannt. Wir haben davon wenig gehört. Es vollzog sich, wie alles im Lande, lautloser, nicht demonstrativ. Es war nicht von Pappe. Es war aus Stahl.

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