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Ein Dichter und Bekenner

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„Seine große Kraft beruhte auf seinem Mut im Dienste des Glaubens", schrieb Paul Claudel über seinen Landsmann, der zu den Bahnbrechern der modernen christlichen Literatur gehörte. Sein Beispiel wirkt nicht nur in Frankreich weiter.

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„Seine große Kraft beruhte auf seinem Mut im Dienste des Glaubens", schrieb Paul Claudel über seinen Landsmann, der zu den Bahnbrechern der modernen christlichen Literatur gehörte. Sein Beispiel wirkt nicht nur in Frankreich weiter.

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„Nicht ausdrücklich ein Heiliger" - wenn Georges Bernanos so von Peguy spricht, fügt er sofort an: .Aber er ist ein Mensch, der über seinen Tod hinaus in Rufnähe ist, ja noch näher in unserem Bereich, in unserem persönlichen Bereich, jemand, der jedesmal antwortet, wenn man ihn ruft."

Rufen wir ihn? Rufen wir ihn wirklich, oder ist er unserem persönlichen Bereich entglitten, weil wir an seiner kompromißlosen Denkweise gescheitert sind? Oder weil wir ihn schlicht und einfach vergessen haben? Charles Peguy hat uns viel zu sagen.

Er kommt aus armen, aber nicht elenden Verhältnissen. Kurz nach seiner Geburt stirbt der Vater; die Mutter bestreitet den Lebensunterhalt durch Stuhlflechten. Ihr Fleiß wird es ihr schließlich ermöglichen, das Haus zu kaufen, in dem sie wohnen. Peguy ist ein guter, fleißiger Schüler und hilft abends seiner Mutter Stühle flechten. Arbeit ist das fundamentale Erleben Peguys, worüber er immer wieder meditiert: „Diese Arbeiter dienten nicht, sie arbeiteten. Sie besaßen eine Ehre, eine absolute Ehre, wie dies das Wesen der Ehre ist." Er fühlt sich als Handwerker aus dem Volk.

Sein Zug zum Absoluten wird schon früh deutlich, wie bei seinem älteren Landsmann Leon Bloy. Der gemeinsame Freund Jacques Maritain schreibt im Vorwort zu Peguys „Briefe an

Veronika": „Gott, der uns genau kennt, erhört voll Güte unsere Gebete und gibt uns, nicht, um was wir ihn bitten, sondern was uns not tut."

Er, dem von Kindheit an die Ordnung der Arbeit und des Lebens eine Geschlossenheit bilden, erfährt im Gymnasium, wie sehr das Geld die Menschen in Gruppen teilt. Ihn bewegt eine edle Gesinnung für die Verbesserung der Lage des Volkes, ja der ganzen Menschheit.

Nach dem Militär bereitet er sich auf das Examen Ecole Normale Superieure vor. Im katholischen Vinzenz-Verein wird er mit der tiefsten Not des Volkes konfrontiert. Mit dem sozialistischen Studenten Marcel Baudoin schließt er enge Freundschaft. Es ist dies eine für Peguys Leben sehr bestimmende Verbindung. Ein Jahr vor dem Tod des Freundes im Jahr 1896 beginnt er mit diesem gemeinsam an seiner „Jeanne d'Arc" zu schreiben. Im Jahre 1897 heiratet er Marcels Schwester. Peguy will die sittliche Erneuerung des Menschen. Wohl ist die Beseitigung des Elends sein Anliegen, aber noch wichtiger erscheint ihm die innere Vervollkommnung.

Die Gestalt der Jeanne d'Arc sollte ihn nicht mehr verlassen. Peguy wird vom Wesen dieses einfachen Mädchens fasziniert, von seiner Intelligenz und seinem kompromißlosen Eintreten für das Ideal. Die Geschichte ihres Lebens sieht er in paradigmati-schem Zusammenhang zur Nachfolge Christi. Ihr Wille, allein auf Menschen gestützt, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, mußte scheitern. Hier aber begreift Peguy aus dem Geist des Christentums die erlösenden Kräfte des Leidens.

Immer mehr wächst er in den Bereich des Absoluten hinein. Was er über die Wahrheit sagt, hat höchste Aktualität: „Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit soll man sagen, daß man die dumme Wahrheit dumm, die unangenehme Wahrheit unangenehm, die traurige Wahrheit traurig sagen soll."

Diese Kompromißlosigkeit brachte ihn oft in Gegensatz zu Freunden, aber er erfuhr auch die Freude der konsequenten Haltung einer kleinen Gruppe junger Menschen, „die einfache Ideen besaßen, die aus dem Herzen stammten. Diese Ideen bestanden darin, daß wir damit anfangen müßten als Sozialisten zu leben, daß die Revolution der Welt mit der Revolution in uns selbst beginnen müßte..."

Er dringt in den Bereich der Mystik vor, die er mit der Wirklichkeit verwoben sieht. Wenn das Erfolgsdenken an den wesentlichen Werten Verrat übt, dann sieht sich der Dichter veranlaßt, für die Wahrheit einzutreten. Ein Beispiel bietet die Entwicklung des Wahlsystems, das erkämpft wurde, damit das Volk die Möglichkeit besitzt, seinen Willen zu äußern. Nun sieht Peguy, daß es dazu dient, eine Mehrheit zu schaffen, welche die Minderheit unterdrückt. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellt er fest: „Die Zeit ist keineswegs so beschaffen, daß sie den Sieg des Guten gewährleistet. Die kleinste Schwäche genügt, um Errungenschaften von Jahrhunderten in einem Augenblick zu zerstören."

Waren seine bisherigen Bestrebungen und Äußerungen von liberalem Gedankengut getragen, so dokumentiert sich 1910 im „Mysterium der Erbauung" seine endgültige Bekehrung zum Katholizismus. Es gehört zu seiner Eigenart, daß er alles zuerst in sich, in der Stille reifen läßt, dann aber mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit vertritt. Das „Mysterium" ist das Werk, in dem sich Peguy als katholischer Dichter präsentiert und auch weite Publikumskreise erreicht.

Die folgenden Jahre sind von überschäumender Produktivität. Die 1912 begonnene „Tapisseries" erscheint im Mai 1913. Im selben Jahr entstehen die zweitausend Vierzeiler von „Eve", dem Epos der menschlichen Heilsgeschichte. Schließlich beendet er 1914 das Werk „Clip II".

„Es wäre schön, auf der Straße zu sterben und sogleich in den Himmel zu kommen." Dieser Satz Peguys erscheint prophetisch. Am 2. August 1914 rückte er nach Coulummiers zur Infanterie ein. Die Nacht vor seinem Tod verbrachte er in einer kleinen Kapelle. Am 5. September übernahm er, nach dem gefallenen Hauptmann, das Kommando über die 19. Kompanie des 276. Regiments der Infanterie und fiel, einundvierzig-j ährig, noch am selben Abend. Sein Abschied lautete: „Liebe Freunde, ich gehe weg als ein Soldat der Republik, um für die allgemeine Abrüstung im letzten aller Kriege zu kämpfen."

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