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Ein diskreter Charme der Bourgeoise...

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Die beiden Weltkriege, das Erwachen revolutionärer Kräfte und die Neigung, gesellschaftliche Probleme durch kollektivistische Maßnahmen zu lösen, stellten die liberalen Traditionen Europas in Frage und zerstörten sie sogar teilweise. Trotzdem kann das 19. Jahrhundert schlechthin als die Epoche des Liberalismus bezeichnet werden. Heute sind die liberalen Parteien wieder im Vormarsch: in der Bundesrepublik in der Regierung, in Italien ein bestimmender Faktor der Innenpolitik. Und neuerdings feiern die Liberalen auch in England spektakuläre Erfolge. Liberale Kandidaten gewannen sowohl in Labour- wie in konservativen Hochburgen.

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Die beiden Weltkriege, das Erwachen revolutionärer Kräfte und die Neigung, gesellschaftliche Probleme durch kollektivistische Maßnahmen zu lösen, stellten die liberalen Traditionen Europas in Frage und zerstörten sie sogar teilweise. Trotzdem kann das 19. Jahrhundert schlechthin als die Epoche des Liberalismus bezeichnet werden. Heute sind die liberalen Parteien wieder im Vormarsch: in der Bundesrepublik in der Regierung, in Italien ein bestimmender Faktor der Innenpolitik. Und neuerdings feiern die Liberalen auch in England spektakuläre Erfolge. Liberale Kandidaten gewannen sowohl in Labour- wie in konservativen Hochburgen.

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In den Fegefeuern der Katastrophen 1914/18 und 1939/45 wurden die liberalen Parteien größtenteils aufgerieben oder schrumpften zu kleinen Fraktionen zusammen. Diese konnten gegen die Massenorganisationen der Kommunisten und christlichen Demokraten wenig ausrichten. Nur in den skandinavischen Staaten und auf den britischen Inseln verteidigte der Liberalismus die Gundlagen seiner einstigen Größe, während die wirtschaftliche Ausprägung nicht von Kritik frei blieb und in ihrer Berechtigung gelegentlich angezweifelt wurde. Die Barbarei des Nationalismus und des Stalinismus schärfte das Gefühl für die moralischen und kulturellen Werte des abendländischen Erbes.

Einzelne hervorragende Individualisten wünschten die Renaissance eines reformierten Liberalismus. Dieses Sich-Wiederfinden ist mit den Namen Benedetto Croce, Einaudi, Theodor Heuss, Friedrich Meinecke und Wilhelm Röpke verbunden. Der spanische Geschichts-philosoph und Diplomat Salvador de Madariaga ermahnte seine Freunde, daß die moderne Welt liberaler Geister bedürfe wie nie zuvor. Denn ihre Ideen und Ideale würden die Grundlage einer neuen Zivilisation bestimmen, und diese sei mehr denn je von gefährlichen Slogans und Dogmen bedroht.

Gerade die Betonung der individuellen Gesinnung erschwerte eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Besonders plastisch weist ein Wortführer des jetzigen Liberalismus, Dr. Willfried Gredler (österreichischer Botschafter in Bonn und Vizepräsident der österreichischen Gruppe der liberalen Weltunion), auf die Problematik internationaler Zusammenarbeit der liberalen Gruppen und Parteien hin: „Das Typische der liberalen Idee ist die große Spannweite der Auffassungen. Außerdem ist die Geschichte dieser Gruppierungen in den verschiedenen europäischen Staaten anders. Hier unterscheidet man etwa sogenannte Radikale, die vor allem im Gegensatz zu klerikalen Parteien groß geworden sind, von national-liberalen Gruppierungen, bei denen das Bekenntnis zu einem bestimmten Staatsvolk im Vordergrund stand.

Wie schwierig es ist, die Frage zu umgrenzen, welche Parteien überhaupt bei einer freiheiitlich-liberalen Zusammenarbeit mittun können, beweist das Problem der Gaullisten im

Europarat. Während im Europäischen Parlament die Gaullisten eine eigene Gruppe bilden konnten, war angesichts ihrer Beschränkung auf französische Abgeordnete und ihrer relativ geringen Zahl in der Beratenden Versammlung des Europarates für diese politische Gruppe eine solche Möglichkeit nie vorhanden. Die Gaullisten schlössen sich daher der Gruppe der liberalen und artverwandten Parteien an, verließen diese aber nach einiger Zeit, wobei während ihres Zugehörens einige linksliberale französische Politiker dieser Gruppierung ferngeblieben waren, die dann — nach Abziehen der Gaullisten — sich der liberalen Gruppe anschlössen.

Damit ist das Problem gestreift, wer etwa in Frankreich als Liberaler angesprochen weden kann. Es beginnt mit liberalkonservativen Käften (um Pinay bis zu den Gis-cardiens), geht nach Zusammenfassung der Reste der MRP mit Rechtsliberalen zur Gruppe Duhamel weiter zu einigen Mitarbeitern von Lecanuet, sodann zur Parteiung der sogenannten Radikalsozialisten, die bekanntlich eine linksbürgerliche Partei in Frankreich darstellen, das heißt zu Jean Jacques Servan-Schreiber bis zu Maurice Faure, der

— ursprünglich eher Rechtsliberaler

— in letzter Zeit stärker zur Linken gerückt ist, nicht zuletzt, um in seinem Wahlkreis überhaupt mit Linksstimmen durchkommen zu können; kurzum, es gibt mindestens fünf, wenn man genau unterscheidet, vielleicht sogar sieben französische Nuancen liberaler Politiker, selbst dann, wenn man die Gaullisten von vornherein ausscheidet und sie als eine konservative, rechtsgerichtete Gruppierung bezeichnen möchte — übrigens, wenn man an die Linksgaullisten denkt, ein gewiß unrichtiges Urteil.

Während es in Italien, in Österreich und in der Bundesrepublik ziemlich eindeutig feststeht (ebenso in den skandinavischen Länden, in Belgien, Luxemburg und Goßbritannien), wer in einem internationalen Verhältnis als Liberaler bezeichnet werden kann und soll, gibt es interne Spannungen etwa dergestalt, daß sich die schwedischen Liberalen gegen die Zugehörigkeit der Freiheitlichen Partei Österreichs zur Liberalen Weltunion ausgesprochen haben. Da auch in der FPÖ einzelne Stimmen vorhanden sind, die eine solche Brücke — etwa im Hinblick auf die Ostpolitik und andere Umstände der FDP — für wenig rätlich halten, gehört die Freiheitliche Partei Österreichs der Liberalen Weltunion nicht an.“

Trotz gelegentlicher Differenzen und Nuancen in den Positionen gibt es in der Geschichte der Liberalen Weltunion nicht die dramatischen Akzente, wie sie bei den sozialistischen, kommunistischen und trotz-kistischen Organisationen festzustellen sind. Wer sich mit Geist und Stil der liberalen Internationalen beschäftigt und im Liberalen Club von England (wo das internationale Generalsekretariat untergebracht ist) einmal Gast sein durfte, wird von einem gewissen noblen Klima gefangengenommen. Hier trifft ein „Gentleman“ noch einen anderen „Gentleman“, und eine „Lady“ begegnet einer anderen „Lady“. In einer Zeit, in der die Begriffe „Revolution“ und „Zerstörung der Gesellschaft“ zum täglichen Vokabular gehören, beeindruckt dieser „diskrete Charme der Bourgeoise“ ganz besonders. Mit diesem Titel (einem Film des spanischen Meisterregisseurs Bunuel entliehen) ist die Liberale Weltunion treffend charakterisiert.

1952 betrachtete Salvador de Madariaga seine Aufgabe als Erster Präsident der Weltunion als abgeschlossen. Sein Nachfolger wurde der belgische Senator Roger Motz, der 1958 durch den Italiener Giovanni Malagodi abgelöst wurde. Der Präsident der italienischen liberalen Partei leitete die Internationale acht Jahre lang. Er befruchtete maßgebend die Überlegungen seiner Organisation. Nach einem kurzen Zwischenspiel des Holländers Toxopeus übernahm Gaston Thorn (Außenminister des Großherzogtums Luxemburg) im September 1970 die Präsidentschaft.

Für die Liberale Weltunion gibt es keinen Grund, die seit langem gültigen Statuten neu zu fassen. Der Zweck der Internationale besteht in der Entwicklung einer freien Gesellschaft, die die individuelle Freiheit, persönliche Verantwortung und soziale Gerechtigkeit respektiert. Als Mitglieder zeichnen politische nationale Parteien und andere Organisationen, die sich zu den Manifesten bekennen.

Die Liberalen (und ebenso die anderen Internationalen) vermeiden, so gut es geht, in einem Land parallele Organisationen anzuerkennen. Individuelle Mitglieder — in der Bundesrepublik genießen zum Beispiel CDU-Angehörige dieses Status — können an den Kongressen nur als Beobachter teilnehmen; es sei denn, sie sind von der national anerkannten Sektion als Delegierte nominiert. Organisationen liberalen Charakters können als solche der liberalen Internationale angehören. Sie werden als assoziierte Mitglieder bezeichnet. Ihre Delegierten können ebenfalls als Beobachter an den Jahreskongressen teilnehmen.

Die Liberale Weltunion präsentiert sich in erster Linie als ein Ort der Begegnung, die Aussprache und Modernisierung des liberalen Gedankengutes. Intensiver als die anderen Internationalen (bei denen Probleme der pragmatischen Politik im Vordergrund stehen) bemühen sich die Liberalen um die Unterstützung wissenschaftlicher Institute. Sie wollen ihre Gedanken in ein logisches System bringen und deren Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft der Gegenwart analysieren. Zu diesem Zweck wurden viele Zentren aufgebaut, die als kulturelle Stiftungen Recherchen vornehmen und Vorschläge konzipieren. Ob es sich um die deutsche Friedrich-Naumann-Stiftung handelt, die italienische Fondazione Luigi Einaudi, die niederländische Professor-Telders-Stif-tung, das belgische Centre Paul Hymans oder um den englischen Hampden Trust, alle beeinflussen das politisch-liberale Denken ihrer Länder.

Der Italiener Professor Salvadori ergriff 1954 die Initiative, eine „Schule der Freiheit“ ins Leben zu rufen. Diese wurde 1962 von der Friedrich-Naumann-Stiftung übernommen und finanziert. Sie organisiert für europäische Studenten und die der Dritten Welt zwei bis drei Studientagungen pro Jahr. Die „Freiheitsschule“ basiert auf drei Prinzipien: das kritische Denkvermögen zu stärken, Begegnungen zwischen Jugendlichen bis zum Alter von dreißig Jahren zu arrangieren und ihnen die Gelegenheit zu bieten, politische und philosophische Fragen bis ins Detail durchzudiskutieren.

Die Liberale Weltunion hält mit Bedacht an ihren Grundsätzen fest und ist stolz auf die Oxforder Manifeste. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, seien die essentiellen Punkte erwähnt:

Achtung vor der menschlichen Person und vor der Familie bildet die wahre Grundlage der Gesellschaft.

Der Staat ist lediglich das Werkzeug der Gemeinschaft; er soll sich keine Macht anmaßen, die den Grundrechten der Bürger und den für ein verantwortungsbewußtes und schöpferisches Leben wesentlichen Bedingungen widerstreitet.

Die Liberale Weltunion glaubt, „daß jede Regierung die ihr notwendig erscheinenden Maßnahmen auf wirtschaftlichem Gebiet zu planen hat. Diese Planung darf jedoch die Autonomie der Privatwirtschaft und die Preisbildung im Sinne der freien Marktwirtschaft nicht in Frage stellen. Freier Wettbewerb muß gewahrt bleiben. Diese liberalen Grunderfordernisse der wirtschaftlichen Entwicklung sichern allen Ländern der Welt die größtmögliche Masse von Konsumgütern.“

Die Weltunion will nicht nur theo-retisieren und freiheitliche Gesellschaftsmodelle präsentieren. Sie will in der nationalen und internationalen Politik eine bestimmte, fest umrissene Rolle spielen. In den deutschen Bundestagswahlen 1972 und den französischen Parlamentswahlen 1973 bekannten sich zwölf Millionen Wähler zu liberalen Parteien. Der moralische Einfluß der Liberalen ist in manchen Ländern stärker, als es ihrer Stimmenzahl entspricht.

Die eigentliche Schlacht wird jedoch von der liberalen Fraktion des Europaparlaments geschlagen. Diese Gruppe hat eine bemerkenswerte Aktivität entfaltet, wogegen sich die korrespondierende Fraktion im Europarat um vieles weniger hervortut. Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft existiert außerdem noch eine liberale Bewegung für das Vereinigte Europa unter dem Vorsitz von Jean Rey (langjährigem Präsidenten der EWG-Kommission und prominentem belgischen Liberalenführer). Die Verantwortlichen beider Organisationen bestreiten nicht, daß es zwischen der Weltunion und der liberalen Bewegung gelegentlich zu Eifersüchteleien und kleineren Konflikten gekommen ist. Seit dem internationalen Kongreß im September 1972 in Paris haben sich die Beziehungen aber gebessert.

Die „Jungtürken“ der Liberalen wollen in der internationalen Zusammenarbeit weitergehen. Unter der Führung der deutschen Delegation machten sie auf dem schon zitierten Pariser Kongreß einen sensationellen Vorstoß. Künftighin soll nur eine liberale europäische Partei mit nationalen Sektionen existieren. Obwohl der Gedanke im Zeitalter der fortschreitenden europäischen Integration bestechend wirkt, wurden verständlicherweise viele kritische Einwände laut.

Die Zukunftsperspektiven der liberalen Internationale lassen sich aus den Arbeitsergebnissen und Überlegungen der letzten drei Jahre ablesen. Sie wird mit Nachdruck die europäische Einigung und die Hilfe für die Dritte Welt fördern.

Ein Lieblingsgedanke der Liberalen Weltunion — bereits 1969 ausgesprochen — könnte neuerlich Gestalt annehmen: Zur Propagierung des Vereinten Europa versuchte damals der Vorsitzende Toxopeus eine Koordinierung mit der sozialistischen und der christlich-demokratischen Internationale. Die christlichen Demokraten stimmten zu, aber die Sozialisten distanzierten sich. „Wo die christlich-demokratischen Politiker in den fünfziger Jahren anfingen, den Traum von einem einigen Europa zu verwirklichen, und die sozialistischen Parteien in den sechziger Jahren praktisch fortfuhren, wollen wir Liberale im kommenden Jahrzehnt als Motor der europäischen Integration auftreten“ — so wurde auf dem Pariser Kongreß die zukünftige Tätigkeit der Weltunion formuliert.

Da Senatspräsident Poher, einer der markantesten christlich-demokratischen Repräsentanten Frankreichs im Palais/ Luxembourg, den Kongreßteilnehmern die liberale Komponente in der christlich-demokratischen Gesellschafts-Philosophie darlegte, kann man auf eine engere Kooperation aller politischen Kräfte Westeuropas hoffen, die Freiheit und Würde des Menschen dem Kollektivismus gegenüber vertreten.

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