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Ein Dschungel im Kopf

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Endlich bringt man ein paar Kleidungsstücke, da merke ich, daß es ein Fehler war, so viele gleichzeitig herauszuläuten, weil da schon Verräter unter ihnen sind, die melden werden, daß eine Frau mit ihrem Kind sich in der Nähe versteckt halten müsse, sie verlangte nach einer Decke. Und ich renne zurück und hoffe und bete inständig, daß Judith noch da ist. Sie ist da, sitzt auf dem Betonvorsprung und spielt mit ein paar abgebrannten Streichhölzern. Da sehe ich ein, daß es unmöglich ist, sie hier versteckt zu

halten, weil ich sie eines Tages nicht mehr finden würde. Ich werde ganz ruhig, wickle sie in einen alten Pullover und sage: „So, jetzt gehen wir nach Hause. Du kommst in die Badewanne, damit du dich nicht verkühlst.“ Und ich weiß, daß das die einzige Möglichkeit ist. Was kommt, wird kommen, ob wir uns nun verstekken oder nicht.

Ich trage sie den Hang hinauf, obwohl sie sehr schwer ist und naß und kalt, ich sehe die Panzer vorbeirollen in einer ununterbrochenen Kette. Alles läuft schön geregelt ab, die Bürger haben sich schon an den neuen Zustand gewöhnt und lächeln zufrieden. Ich aber muß die Straße überqueren, denn drüben steht unser Haus.

Ich warte eine Zeitlang, einmal wird es eine Lücke geben, und wirklich, schnell laufe ich über die Straße und halte Judith fest, sehr fest. Sie bemerken das und runzeln unmutig die Stirn, weil ich nicht stillstehe wie sie und die neuen Machthaber begrüße. Aber Judith muß erwärmt werden, sonst wird sie krank. Ich trage sie ins Haus, lasse heißes Wasser in die Wanne laufen, ziehe sie aus und setze sie hinein, alles ganz mechanisch und wie taub. Ich weiß nur, daß ich weitermachen muß wie bisher. Sie werden kommen und ihre Fragen stellen, und ich muß es geschehen lassen, muß klug sein und geschickt ausweichen, den Weg wählen, auf dem wir überleben können, Judith vor allem, und ich, solange Judith mich braucht.

Annerose denkt so: . Dies hier ist ein Kind, und aus diesem bestimmten, einzigartigen Kind ergibt sich, daß... Und diese Pflanze sieht folgendermaßen aus und riecht wie und erzeugt in mir folgende Assoziation an diesem bestimmten Ort, zu dieser Tages- und Jahreszeit, in dieser meiner augenblicklichen Stimmung. Und diese Landschaft scheint mir zu versinnbildlichen

folgendes und hängt zusammen mit einem Erlebnis aus meiner Kindheit, das ich nun plötzlich wieder weiß, bis zu diesem Moment lag es verschüttet in meinem Kopf, Punkt, Punkt, Punkt.

So funktioniert Denken bei Annerose. Und wenn sie Genaueres braucht, Fakten, kann sie sich die ja holen, sich erkundigen bei den Kompetenten, Fachbüchern oder Fachmenschen.

Und sie will sich nicht länger genieren müssen über das Staunenswerte, das sie umgibt und das sie sehen kann, das sie nicht erdrückt, im Gegenteil, wohlig ist ihr. Nur wenn Helfried ihr sagt, daß die Fülle eine erdrückende wäre, wird sie ängstlich, nachdenklich, neigt dazu, ihm zu glauben. Sie glaubt ihm so gern. Sie vertraut ihm. Er meint es gut. Obwohl sie manchmal lächeln muß über seine Begrenztheit.

Er behauptet, ihr Denken wäre ein Treibhaus, in dem die Pflanzen lang nicht gehegt, gepflegt, was heißt: beschnitten und dezimiert worden wären, da bliebe kein Pfad, kein begehbarer Weg.

Aber sie sagt Helfried: Es ist kein Treibhaus, es ist ein Dschungel! Und dieser Dschungel ist weit und dicht, er ist unendlich, wächst fortwährend. Bringt Neues hervor, erstickt anderes, verändert

sich, ist in Bewegung. Und alles lebt nebeneinander, wird getötet oder stirbt von selbst. Blut und Erde und Wasser und Licht. Und nichts ist tot, nicht einmal die Steine.

Sie mag sich nicht mehr vorschreiben lassen, wie sie ihr Treibhaus zu gestalten hätte. Wenn's doch nicht einmal ein Treibhaus ist. Sie mag ihren Dschungel nicht reduzieren auf sein läppisches Abbild. Warum nach seinen Plänen vorgehen? Wenn sie doch deutlich merkt, daß der Dschungel ihr wohler tut, diese heiße Luft, diese Feuchtigkeit. Und die Wirrheit ist keine, und sie so selbstverständlich unter den anderen allen. Das werden die wohl nicht gelten lassen, die mit dem „klassischen Standpunkte“. Oder ist der „kla?sische Standpunkt“ nur ein Fiktion?

Was sagen Sie dazu, Herr Geheimer Rath? Oder Sie, Herr Schiller, an Ihrem Stehpult, in Ihrer Unruhe, mit dem Geruch verfaulender Äpfel in der langen Nase, in der Nacht, in Ihrem hohen Zimmer, mit Ihrer jungen, schwarzlockigen Gemahlin nebenan schlafend, den Gänsekiel in der Hand, gequält, getrieben von Ihren Gedanken?

Und Sie, Fräulein Günderode,

in Ihrem schlichten Kleid mit dem weißen Kragen, Stiftsfräulein mit dem Dolch in den Gewandfalten, kühnste Frau, und Sie, verzweifelter Herr Kleist, und Sie, üppige blonde Bettine, ungestüme Brief-schreiberin, Sie genieren sich doch nicht, sind eines Tages auf Ihren eigenen Weg geraten und haben nicht mehr gelassen davon, sich nichts mehr sagen lassen, Denkwege vorschreiben, wie absurd!

Lieber Herr Stifter und auch Sie, liebster Herr Jean Paul Friedrich Richter, alter Griesgram, biersüchtiger, dicker, kleiner, häßlicher Mann, Liebling der Damen, girlandenumwunden, Herr Worterfinder und Luftschiffbenutzer, wir werden es doch schaffen? Unsere Wölkchen werden rosige Farben tragen in dieser Frühe, unter uns die giftgrüne Erde, die kohlschwarz verbrannte Erde, die kleinen Krüppel, wir aber der Sonne entgegen, in eine neue Morgenröte, nicht wahr, Jean Paul?

Und Sie, und Sie, Herr Hoffmann, gebückt aus der niedrigen Amtsstube tretend, ihre schwarzen Augen stechen dennoch, und lustig kringeln die Löckchen sich um den hohen Samtkragen. Ihre Prinzessin Brambilla, Ihr Kater Murr, Ihr Ritter Gluck aus weinroten Samtvorhängen lugend, wirklicher als wirklich.

Aus dem Roman „Die Farben der Jahreszeiten“, der demnächst im Verlag Styria, Graz, erscheint.

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