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Ein Exodus mit Schwierigkeiten

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Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, mußte ich mit der Hand auf die fünf Bücher Moses' schwören, daß ich nie wieder den Versuch machen werde, mein äthiopisches Vaterland zu verlassen. Sollte ich es dennoch tun, würde ich getötet”, erzählte Sarah, eine 25jährige äthiopische Jüdin, die sich seit eineinhalb Jahren in Israel befindet. Sie demonstrierte damals vor der Knesset, Israels Parlament, um die israelische Regierung zu zwingen, alles zur Rettung der 25.000 bis 30.000 äthiopischen Juden, die der schwarzen Rasse angehören und Falaschas genannt werden, zu tun und sie nach Israel zu bringen. Inzwischen sind vom äthiopischen Hafen Massaua und über eine Luftbrücke 11.000 äthiopische Juden nach Israel gekommen. Nun wurde die Luftbrücke nach Israel abgebrochen, nachdem die Weltpresse über den Exodus aus Äthiopien berichtet hatte.

Monatelang erhielten die Nachrichtenredaktionen der israelischen Massenmedien die Weisung, alle Nachrichten, Reportagen, Artikel und Leserbriefe über die äthiopischen Juden der Militärzensur zu unterbreiten. So konnte der Auszug der Juden aus Äthiopien monatelang verheimlicht werden.

Doch kann eine so groß angelegte Aktion nicht auf Dauer geheimgehalten werden. Die Äthiopier gehören in vielen kleinen Städten Israels längst zum Straßenbild. Allein in den letzten Monaten sind 8.000 Falaschas eingewandert.

Die Falaschas, mit ihrer kaffeebraunen bis schwarzen Hautfarbe und ihrem gekräuselten Haar, besitzen alle Merkmale der afrikanischen Rasse. Diese Tatsache allein ist bereits das erste Hindernis für eine reibungslose Integration in Israel.

Die äthiopischen Juden lebten viele Generationen hindurch in völliger Abgeschiedenheit. Sie unterscheiden sich weder äußerlich noch durch ihre Lebensweise von ihren Nachbarn, den christlichen Amhara-Stämmen. Sie lebten zumeist in kleinen Dörfern und befaßten sich mit primitiver Landwirtschaft.

Da ihnen Bodenbesitz verboten war, sind sie nur Pächter und müssen ein Drittel der Ernte an die Grundbesitzer abliefern.

Das Wort „Falascha” bedeutet auf Amharisch „Fremdlinge”; „Fremdlinge”, vor denen man sich in acht nehmen muß. Deshalb wurden sie von ihren Nachbarn oft verfolgt und nach der Einführung des Christentums auch des Mordes an Jesus bezichtigt. •

Uber die Herkunft der Falaschas gehen die Ansichten auseinander. Einige Forscher behaupten, sie würden noch von dem Stamme Dan, einem der zehn verschollenen Stämme Israels, abstammen. Andere glauben, daß sie zur Zeit des 2. oder 3. Jahrhunderts von den jemenitischen Juden bekehrt worden sind.

Jedenfalls kennen die Falaschas nur die Bibel und nicht den späteren Talmud. Sie kennen das jüdische Osterfest (Pessach) sowie die drei hohen Feiertage, das jüdische Neujahr und den Bet-und Bußtag Jörn Kipur. Sie feiern den neuen Mond. Doch die nachbiblischen jüdischen Feiertage

Purim und Chanukkah (Fest der Lichter) sind ihnen völlig unbekannt.

Jedenfalls: Während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung bildeten die Falaschas einen eigenen Staat. Doch im 13. Jahrhundert wurden sie von den am-harischen Stämmen zu einer rechtlosen Minderheit degradiert. Vor rund 100 Jahren wurden sie von einem protestantischen Missionar, der 60 Jahre im damaligen Abessinien verbracht hatte, auf 250.000 Seelen geschätzt. Doch nach Verfolgung und Zwangstaufen zählen sie heute nur 15.000 bis 25.000 Seelen.

Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die „Falaschas” mit Hilfe der Missionare Verbindung mit den Juden der Welt auf. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie geglaubt, die einzigen jüdischen Uberlebenden in der Welt zu sein.

Der Traum, nach Jerusalem zu kommen, war auch für sie immer ein Teil ihrer Religion. Doch zögerte Israel jahrelang, bis es bereit war, eine „Falascha”-Ein-wanderung zu gestatten. Erst waren es politische Erwägungen, die eine Einwanderung verhinderten, dann waren sich wieder die Rabbiner nicht einig, ob es sich bei den „Falaschas” wirklich um Juden handelte.

Die jüdischen Neueinwanderer aus Äthiopien kommen in Israel in 36 Auffanglager, zumeist gepachtete Hotels, wo sjie angeleitet werden, mit fließendem Wasser umzugehen, einen Gasherd zu bedienen, eine Wassertoilette und einen Kühlschrank.

Obwohl die äthiopischen Juden bei ihrer Ankunft zumeist nur Amharisch sprechen; erlernen sie verhältnismäßig leicht die neue Sprache. Die Wißbegier der jungen Generation kennt keine Grenzen.

Einige wenige konnten sich bis Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, durchschlagen, absolvierten dort ein Gymnasium und studieren heute bereits an den Universitäten Israels.

Das israelische Unterrichtsministerium hat nun beschlossen, die jugendlichen Äthiopier in die besseren Schulen des Landes zu schicken, da die jungen Leute innerhalb von einigen Monaten ein gewaltiges Pensum nachholen können. Sie kommen einige Stunden vor Schulbeginn in die Schule und bleiben dort bis in die Abendstunden. Sogar die kleinsten Kinder verstehen, daß sie lernen und wieder lernen müssen, um vorwärts zu kommen.

Nur ein Problem macht ihnen Schwierigkeiten: die Pünktlichkeit. Denn bisher lebten sie nach einer biologischen Uhr und nicht nach einer schweizerischen...

Gleich nach ihrer Ankunft in Israel waren die Neueinwanderer noch so verängstigt, daß sie vielfach die Brotrationen versteckten, um etwas für die Stunde der Not zu haben. Sie lernten erst hier Obst kennen, Apfelsinen, Bananen. Und als man ihnen zum ersten Mal Suppennudeln auftischte, weigerten sie sich, diese zu essen, denn sie glaubten, es würde sich um Würmer handeln.

Für den Judenstaat ist es kein leichtes, seine schwarzen Glaubensbrüder aus primitivsten Lebensbedingungen ins 20. Jahrhundert zu transferieren. Doch haben sich bereits auch israelische Familien gefunden, die eine „Falascha”-Familie adoptieren, um ihr so bei all den Integrationsproblemen zu helfen.

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