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Ein Forscher neuer Wege

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Vor bald sechs Jahrzehnten, im Dezember 1907, hielt der Ordinarius für Neue deutsche Philologie an der Universität Prag seine berühmte Rektoratsrede über das Thema „Literaturgeschichte und Volkskunde", die den Beginn einer neuen Epoche der germanistischen Forschung einleitete. Während dieser Rede randalierten Deutsche und Tschechen vor der Universität und der Lärm drang in die überfüllte Aula, so daß man August Sauers Worte — stand man weitab — nur wenig und nichts von ihrem Zusammenhang verstehen konnte.

Einer der jungen Doktoranden Sauers war damals mit Mühe in die Aula gelangt, stand abseits und hörte nur Bruchstücke dieser Rede. Er hieß Josef Nadler, war der am 23. Mai 1884 im nordböhmischen Neudörf 1 geborene Sohn eines Werkmeisters in der Stahlwarenfabrik Ignaz Röslers Nachfolger.

Seine Kindheit verlebte er in Nixdorf, für die Universität und für das Leben wurde er von den Jesuiten in Maria Schein am Fuße des Erzgebirges erzogen. Nach der Matura bezog er im Herbst 1904 die deutsche Kaiser Ferdinands-Universität zu Prag, wo er ursprünglich Geschichte studieren wollte, sich aber wegen der damaligen Uberfüllunn des Faches für Germanistik im Hauptfach und klassische Philologie im Nebenfach entschied. Im Sommer 1908 durfte Nadler, der bald ein Lieblingsschüler August Sauers wurde, mit Bewilligung des Ministeriums schon nach sieben Semestern promovieren. Seine Dissertation „Eichendorffs Lyrik, ihre Technik und ihre Geschichte" wurde von Sauer bereits 1908 in die „Prager Deutschen Studien" aufgenommen.

Seit diesem ersten Buch hat Josef Nadler bis zu seinem Tode, am 14. Jänner 1963, sechzig Bücher und über 242 Aufsätze veröffentlicht, die vor allem in zwei Gipfelleistungen Epoche gemacht haben: In der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" und in der sechsbändigen Hamann-Ausgabe.

Er schrieb eine „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz" und eine „Literaturgeschichte Österreichs", die Biographien Grillparzers, Johann Georg Hamanns und Weinhebers, von dem er auch die erste Werkausgabe besorgte. Er vollendete die von Reinhold Backmann begonnene Grillparzer-Ausgabe in fünf Bänden. Seine Biographie des Dichters Henry Benrath (Albert Heinrich Rausch) ist bis heute nicht veröffentlicht worden. Ihr Manuskript liegt im Benrath-Archiv in Friedberg in Hessen. Der fotokopierte Nachlaß Johann Georg Hamanns, dessen Originale im Zweiten Weltkireg verschollen sind und den Nadler auf diese Weise gerettet hat, liegt in der Universitätsbibliothek Münster.

In seiner oben zitierten Rektoratsrede, die Nadler nur bruchstückweise hören konnte, umriß Sauer den neuen Organismus, den Literaturwissenschaft und Volkskunde bildeten. Als Ordnungsgedanken für die gesamte Masse der überlieferten Literatur wurde der landschaftliche und stammheitli-che angesprochen. Er rang schon damals um die erkenntnistheoretische Fundierung dieses Ordnungsprinzips. Man wird Nad-lers vielbekämpftem und mißdeutetem literaturhistorischem Hauptwerk nur gerecht, wenn man sehr aufmerksam seine „Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte" aus dem Jahr 1914 studiert.

Sie fußt auf den logischen und erkenntnistheoretischen Begriffen des Neukantianers Rickert, den historischen und soziologischen Gedankengängen Lamprechts und Taines, und nimmt Fäden auf, die Langbehn und Lagarde bereits auf ihre Weise zu spinnen begonnen haben — zutiefst ist sie aber dem Organismusgedanken Hamanns und Herders verpflichtet.

Nadler verstand unter „Literatur" und der Möglichkeit ihrer Erfassung zeitlebens das gleiche: nämlich einen geistigen Organismus aus Büchern, die zusammen ein gegliedertes Lebensganzes bilden. Alle verwebt ein dichtes Geflecht ungezählter Fäden, von denen die Wissenschaft nur einen kleinen Teil sichtbar machen kann. Literatur ist für ihn der Inbegriff des Lebens aus Natur, Seele und Geist.

Inzwischen sind Genealogie und Volkskunde zu Ehren von Universitätsdisziplinen gekommen, und das soziologische Denken in seinen mannigfachen Ausformungen — von Troeltsch bis Marx und bis zur Frankfurter Schule — hat die Geisteswissenschaften längst durchdrungen. 1911 waren ihre Materialien für Nadler noch äußerst mühsam zu beschaffen gewesen, und doch brauchte er sie als wichtige Bausteine für sein wissenschaftliches Lebenswerk, in dem auch schon eine der jüngsten Forschungsrichtungen wirksam wurde: die Erforschung der Trivialliteratur.

In der steten Umformung, im Nachdenken über seine ursprüngliche Hypothese sind die literaturwissenschaftlichen Werke Nadlers in München, in Freiburg in der Schweiz, in Königsberg und in Wien, an deren Universitäten er gelehrt hatte, von 1912 bis 1957 entstanden. Werk und Person dieses . Gelehrten, dem Österreichs Literatur die Erkämpfung der Gleichberechtigung gegenüber der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zu danken hat, stehen noch heute im Kreuzfeuer ideologisch bestimmter Kritik. Inzwischen hat vor zwei Jahrzehnten der Tod dem steten und mühevollen Arbeiten Josef Nadlers ein Ende gesetzt.

Von Hugo von Hofmannsthal stammt über Nadlers Literaturgeschichte das Wort: „Ein solches Buch besitzt keine andere Nation. — Hier große Kulturpolitik. - Für mich existiert die deutsche Literaturgeschichte durch ihn." Wie weit dieses Urteil eines großen Dichters über einen großen Gelehrten noch weiter Geltung haben wird, muß wohl erst die Wissenschaftsgeschichte der kommenden Jahrzehnte entscheiden.

Der Autor ist Literaturwissenschafter und war Begründer und langjähriger Leiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur.

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