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Ein Frauendelikt?

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Das Thema ist hochbrisant, das Buch „Judasfrauen'.' der Ostberli- ner Autorin Helga Schubert macht Furore. Es behandelt die Rolle von Frauen als Denunziantinnen im „Dritten Reich" in zehn Fallge- schichten.

Eine Frau erkannte Wochen nach dem 20. Juli 1944 den von der Ge- stapo fieberhaft gesuchten ehema- ligen Oberbürgermeister von Leip- zig Karl Goerdeler, den die Ver- schwörer zum Reichskanzler hat- ten machen wollen, in einer Gast- wirtschaft und verriet ihn für eine Million Mark und einen Hände- druck des „Führers".

Eine Schulfreundin seiner Mut- ter zeigte 1943 mit zwei anderen Frauen den hochbegabten, mit 27 Jahren schon berühmten Berliner Pianisten Karlrobert Kreiten bei der Reichsmusikkammer an: Hitler sei seiner Meinung ein Wahnsinni- ger, dem das deutsche Volk ausge- liefert sei, der Krieg praktisch ver- loren, Deutschland und seine Kul- tur würden untergehen, das habe er ihr anvertraut. Die Reichsmusik- kammer ließ die Anzeige liegen. Als sechs Wochen später eine Konzert- reise Kreitens angekündigt wurde, reklamierten die drei beim Reichs- propagandaministerium. Kreiten wurde verhaftet und am 7. Septem- ber mit 185 anderen wegen „Feind- begünstigung" gehenkt.

Ein knappes, lesenswertes Buch. Geschrieben aus der Perspektive einer Autorin, die drei Tage pro Woche unter strengsten Auflagen, unter der Bedingung, daß sie nur lesen werde, was man ihr zuteilte und „in diesem Archiv nicht das Recht habe, Suchkarteien zu be- nutzen" zu Hause in Ostberlin und je drei Tage in Westberlin arbeiten konnte. Die Situation war kafkaesk. Helga Schubert schrieb über De- nunziation als Frauendelikt in der NS-Zeit, meinte aber wohl, auch, vielleicht vor allem, die Denunzia- tion in ihrer nun nicht mehr exi- stierenden Welt.

Ein verdienstvolles Buch, inter- essant, gut geschrieben. Ein wei- teres Thema, das der Aufbereitung harrte. Denunziation gedeiht un- weigerlich und nach wie vor über- all, wo sie honoriert wird. Wo eine Anzeige genügt, um einen Kopf rollen zu lassen, werden Anzeigen unweigerlich zu einem Teil des Alltags.

Fälle wie jene, die Helga Schu- bert erzählt, schlummern auch in unseren Prozeßakten. Acht eigenen Recherchen entstammende öster- reichische Fallgeschichten (Kästen auf dieser Seite) mögen dies, sehr verknappt, belegen.

Zwei Sätze bei Helga Schubert, zum Glück nicht in, sondern an ihrem Buch - sie stehen nicht im Text, sondern hinten auf dem Schutzumschlag und auf der Klap- pe - verursachten mir jedoch Irrita- tion. Der erste: „Es waren mehr Frauen als Männer, die unter Hitler ihre Mitbürger denunzierten - oft sogar die nächsten - und damit in vielen Fällen dem Tod ausliefer- ten." Und: „Diktaturen fördern Denunziantentum: Die Mehrzahl aller Denunzianten aber ist weibli- chen Geschlechts."

Man soll Verschlimmbesserung von Büchern durch Werbeaussa- gen der Lektorate nicht überbe- werten. Aber bei einem emotional so aufgeladenen Stoff setzen sich Halbwahrheiten leicht fest und im konkreten Fall wäre dies besonders schlimm. Zumal der Werbekopf noch eins drauf- und das letzte Zitat fortsetzte: „Eine Tatsache, die ein- seitigem Feminismus ungelegen kommen mag." Auch die Geschich- te weiblicher Destruktivkräfte sei neu aufzuarbeiten.

Auf welchen Statistiken beruht eigentlich die handfeste Aussage, die Mehrzahl aller Denunzianten sei weiblichen Geschlechts? Eine Durchsicht meines eigenen Mate- rials, nämlich der bereits nahezu vollständig erfaßten Berichte öster- reichischer Tageszeitungen über 750 Prozesse gegen NS-Straftäter in Wien in den Jahren 1945 bis 1949, stützt jedenfalls nicht die These vom zahlenmäßigen Übergewicht der Denunziantinnen gegenüber den Denunzianten, sondern belegt eher das Gegenteil. In diesem Sample waren, nur oder unter anderem wegen Denunziation, angeklagt:

1945: 20 Personen, 10 Frauen.

1946: 99 Personen, 30 Frauen.

1947: 102 Personen, 35 Frauen.

1948: 32 Personen, eine Frau.

1949: 7 Personen, keine Frau.

Also insgesamt 260 wegen De- nunziation Angeklagte, darunter 75 Frauen oder knapp 29 Prozent. Das dürfte auch der deutschen Realität entsprechen. Es gibt kaum Gründe, signifikante Abweichungen in Ver- halten oder Geschlechtsverteilung österreichischer gegenüber deut- schen Denunziant(inn)en anzuneh- men. Das Sample der Wiener Pres- seberichte ist für die Gesamtheit der in Wien durchgeführten NS- Prozesse in dieser Hinsicht weitge- hend repräsentativ. Für das Zu- standekommen der Meinung, die Denunziation sei im NS-Staat vor- wiegend ein Frauendelikt gewesen, bieten sich mehrere Erklärungsan- sätze an:

Erschütternde Einzelfälle (siehe Kästen), die eventuell deshalb im Gedächtnis blieben, weil es dem tradierten Frau-Klischee beson- ders widerspricht, Frauen solcher Handlungweisen für fähig zu hal- ten. Eine Tendenz des Gedächtnis- ses, sich das - aus welchen Grün- den immer - „Auffallende" stärker einzuprägen, wodurch möglicher- weise mehr Denunziantinnen „dau- ergespeichert" wurden und die Un- menschlichkeit der Denunzianten öfter im Hintergrundrauschen der Barbarei verschwand.

Frauen stellten in Wien weniger als ein Drittel der wegen Denunzia- tion Angeklagten. Aber bei den Frauen war der Prozentsatz der Anklagen wegen Denunziation un- gleich höher als bei den Männern, bei denen die Gewaltdelikte eine größere Rolle spielten. In diesem, und nur in diesem Sinne war De- nunziation wirklich ein „Frauen- delikt".

Die Prozesse gegen NS-Straftä- ter setzten in Österreich früher ein als in Deutschland. Konnten sich dadurch etwa in Deutschland mehr Männer den Gerichten entziehen, so daß mehr Frauen „im Netz hän- genblieben"?Könnten den Männern traditionelle Vorurteile gegen Frau- en zugute gekommen sein? Oder blieben etwa in Österreich mehr Denunziantinnen ungeschoren - und der Klappentext hat recht?

Fragen über Fragen, mit denen sich die Zeitgeschichte befassen sollte. Auch der extreme Fanatis- mus vieler „Nazissen" oder „Nazi- nen", wie man sie unter der Hand damals nannte, wäre sicher eine psychologische Studie wert. Helga Schubert hat mit ihrem Buch hof- fentlich den Anstoß dazu gegeben.

JUDASFRAUEN-Zehn Fallgeschichten weib- licher Denunziation im Dritten Reich. Von Helga Schubert. Luchterhand Literarurverlag, Frank- furt/M. 1990. 176 Seiten, Ln., öS 232,50.

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