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Ein Friede voller Fußangeln

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Nicht nur britische Diplomaten, viele andere auch waren 1918 davon überzeugt, daß „der nächste Krieg wegen' Danzig“ beginnen werde; sie behielten recht und auch wieder nicht. Danzig war nicht der wirkliche Anlaß. Aber die eigenartige Situation, die man dort geschaffen hatte, wurde als Stimulans benützt. Der neue deutsche Grundvertrag hat sein „Danzig'*: West-Berlin. Und viele andere Fußangeln hat er auch. Können sie umgangen werden?

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Nicht nur britische Diplomaten, viele andere auch waren 1918 davon überzeugt, daß „der nächste Krieg wegen' Danzig“ beginnen werde; sie behielten recht und auch wieder nicht. Danzig war nicht der wirkliche Anlaß. Aber die eigenartige Situation, die man dort geschaffen hatte, wurde als Stimulans benützt. Der neue deutsche Grundvertrag hat sein „Danzig'*: West-Berlin. Und viele andere Fußangeln hat er auch. Können sie umgangen werden?

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Nationen, sagte Staatskanzler Metternich mit Bezug auf die „griechische Frage“, könne man nicht schaffen, sie wüchsen aus der Geschichte empor. Wir wissen, daß dies stimmt. Was aber ist, wenn eine aus der Geschichte beinahe emporgewachsene Nation — beinahe, denn so ganz war sie es ja nicht! — wieder zurückkehrt in den praenationalen Zustand des Status ante quo, wie das nun mit und in Deutschland der Fall ist?

De Gaulle, der sich einer für manche schwer, für andere wiederum leicht verständlichen Symbolsprache bediente, sprach nie von „Deutschland“ und schon gar nicht von einer „Deutschen Nation“, wenn er von der deutschen Gegenwart redete; immer sagte er nur „die deutschen Länder“. Und er wußte, warum.

Die „Deutsche Nation“ ist wahrlich schwer zu fassen. Nach „romanischer Auffassung“ decken sich Nation und Staat. Dies auch, wenn innerhalb des Staatsgebietes verschiedene Völker leben und verschiedene Sprachen gesprochen werden. Nach „germanischer Affassung“ sind Volk und Nation identisch, auch wenn dieses Volk in verschiedenen Staaten lebt.

Stalin schrieb 1913 (übrigens in Wien!) nieder: eine Nation sei eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart. Doch müßten alle diese Merkmale zutreffen, wenn es sich um eine Nation handeln solle, die übrigens, wie alles in der Geschichte, ihren Anfang und ihr Ende habe. Daraus folgt, was Guido Zernatto, einer der tiefsten Denker Österreichs über das Wesen der Nation, hinzufügte: es gebe, sagte er, Nationen Verschiedenen Lebensalters und daher auch verschiedenen Verhaltens.

Als Bismarck 1871 das Klein-Deutsche Reich und Hitler 1939 das Groß-Deutsche Reich schufen, war das „nationale Ideal“ — eine Nation, ein Reich, so gut wie erfüllt. So schien es wenigstens. Bald zeigte es sich, daß der schwärmerische Gedanke voller Irrtümer steckte. Die Suche, wo diese denn lägen, ging im zweiten Weltkrieg unter grausig do - -rndem Getc s unter ...

1945, nach der „bedingungslosen Kapitulation“, die sich Roosevelt ausgedacht hatte und deren Nutznießer vor allem Stalin war, fand man, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, den „Faden der Geschichte“ nicht wieder. Man tat aber so, als wäre er nie verloren gegangen. Die Alliierten (USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion) betrachteten und teilten „Deutschland als Ganzes“. Die Hypothese von der Wiedervereinigung — verringert um den auch historisch irrelevanten „Anspruch auf Österreich“ — der Deutschen, beziehungsweise Deutschlands, blieb jedoch in West und Ost (was heute sehr oft vergessen wird) bestehen.

Diese Hypothese war eigentlich nur eine Camouflage der wahren Wünsche und Absichten sowohl der Alliierten, als auch der näheren und ferneren Nachbarn „Deutschlands“, als auch der deutschen Politik selbst: im Grunde wollte keine dieser relevanten Gruppen und Kräfte die „Wiedervereinigung“ wirklich. Da es infolge des voll ausgebrochenen West-Ost-Konfliktes (kalter Krieg) zu keinem „Friedensvertrag für Deutschland“ kam (mit Deutschland“, das es nicht mehr gab, konnte wohl auch keiner geschlossen werden) hing die „Wiedervereinigungs-Formel“ in der Luft, dennoch wurde sie im „Grundgesetz der BRD“ ebenso verankert wie in diversen Grundsatz-Deklarationen der vormaligen „Ost-Zone“ und nachmaligen DDR.

Ja, sie besteht noch heute geisterhaft fort. Während die BRD und die DDR sich im „Grundvertrag“,der nun geschlossen wurde, gegenseitig anerkennen, sich mit allen Attributen / völkerrechtlicher Subjekte ausstatten, im Vertrag zwischen der BRD und der Sowjetunion, und zwischen der BRD und Polen, neben dem „Gewaltverzicht“ auch die „Grenzen“ (inklusive Oder-Neiße-Grenze, die aber eigentlich zwischen Polen und der DDR verläuft!) garantieren — behalten sich die vier Alliierten ausdrücklich „die Rechte und Verantwortlichkeiten“ für Deutschland vor. In den Briefen, welche BRD und DDR an die vier Alliierten vereinbarungsgemäß richteten, ist zwar nicht mehr die Rede von „Deutschland als Ganzes“, aber das hat seinen guten Grund. Tatsächlich enthält nämlich diese Kombination von „Rechten und Verantwortlichkeiten“ nicht nur eine diffuse Art von „Schirmherrschaft“ bis zum Abschluß eines Friedensvertrages, sondern auch ein gewisses Recht auf „Interventionen“ irgendeines der Alliierten gegen einen der deutschen Staaten, wozu jeder Alliierte, solange es keinen Friedensvertrag gibt, zum Schutze seiner „Rechte und Verantwortlichkeiten“ berechtigt wäre. Die Weglasung, daß dies — so wie bisher — wenn auch nur formal für „Deutschland als Ganzes“ gelte, verweist die vier Alliierten auf ihre ehemalige .Besatzungszonen“ oder auf „freiwillige Kombinationen“ aus denselben, also einerseits die Westalliierten auf die BRD und anderseits die Sowjetunion auf die DDR. Demnach kann auch nach der nun wohl bald erfolgenden Aufnahme sowohl der BRD als auch der DDR in die UNO dennoch nicht von einer uneingeschränkten „Vollsouveränität“ dieser Staaten, zumindest nicht de jure, gesprochen werden.

Noch weitaus diffuser ist die Situation West-Berlins. De facto weist der „Grundvertrag“ zwar diesen Teil der ehemaligen Reichshauptstadt nunmehr endgültig der BRD zu; doch gibt es wesentliche Einschränkungen, die an ein „mögliches Danzig“ denken lassen. Auch hier behalten sich übrigens die Alliierten — und hier ganz besonders — ihre „Rechte und Verantwortlichkeiten“ vor.

Die Vertragslage der „Deutschen Nation“ kompliziert sich durch ein weiteres Rechtsmerkmal. Ausdrücklich ist im „Grundvertrag“ davon die Rede, dieser könne „früher abgeschlossene oder die BRD und die DDR betreffende zweiseitige und mehrseitige internationale Verträge und Vereinbarungen nicht berühren“.

Verträge liegen vor: Für die BRD der EWG-Vertrag, das Abkommen über die NATO und anderes mehr; für die DDR das COMECON-Ab-kommen und der Warschauer Pakt. Damit aber gilt auch, ob man es glaubt oder nicht, für die BRD und die Westmächte die Verpflichtung, bis zum Abschluß eines Friedensvertrages „mit friedlichen Mitteln“ ein gemeinsam deklariertes Ziel zu verwirklichen: die Wiedervereinigung Deutschlands, wie dies aus dem Deutschlandvertrag 1954 hervorgeht. Die DDR — und die Sowjetunion — wiederum tragen weiterhin die aus dem Moskauer Vertrag 1964 hervorgehende Verpflichtung, „den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages zu erleichtern und die Verwirklichung der Einheit Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage zu fördern“!

Wie dies geschehen könnte und ob es überhaupt noch geschehen kann, weiß freilich niemand zu sagen. So nehmen die Vertragverflechtungen den Charakter von „Fußangeln“ an, der durch die jeweilige — und wohl jeweils unterschiedliche — Interpretation auf der Hand liegt.

In der Tat entwickeln sich die „beiden deutschen Länder“ — auch im Sinne der Definition Stalins — auseinander. Politisch, wirtschaftlich, sogar territorial und, bedenkt man die Umgangssprache und die durch diese erfolgende „Begriffsausfüllung“, auch sprachlich! Man kanr zwar noch nicht gut von „zwei deutschen Nationen“ sprechen — wie wir heute von „zwei englischen Nationen“, unter Umständen sogar vor deren fünf sprechen können: dei britischen, der amerikanischen dei kanadischen, der australischen und der neuseeländischen — aber man muß davon sprechen, daß hier zwei deutsche Staaten auf dem besten Wege sind, zu je einer unterschiedlichen NationiiLWsalfiac^rioc,^

Doch auch dabei geht es kompliziert zu. Im Osten bildet sich — nicht nur formal — ein neues Kennzeichen für eine Nation heraus: es ist das Kennzeichen der „sozialistischen Nation“, die kulturelle, sprachliche und andere Verschiedenartigkeiten „überwindet“. Diese „sozialistische Nation“ ist identisch mit dem sozialistischen Gesellschaftsdogma, richtiger: mit dem Bereich, in welchem dieses Dogma unangefochten und unwidersprochen herrscht. Eine „sozialistische Nation“ liegt in einem vom Dogma dekretierten „ewigen Kampf“ mit „kapitalistischen“ oder auch „nicht-sozialistischen“ Nationen, wodurch vermittels Ideologie auf bequeme Weise eine zweiteilige „Überwindung“ der vielschichtigen „Nationalen Frage“ überhaupt erreicht wird. Dieser Kampf kann, muß aber nicht „auf gewalttätige Weise“ ausgefochten werden. Gewalt, die der Gewaltverzichtsvertrag ausschließt, erhält aber einen jeweils „anderen Charakter“, einen „legitimen“, wenn sie der notwendigen Errichtung — oder Erreichung — des „Sozialismus“ dient; einen „illegitimen“, wenn sie dem „Sozialismus“ als „Kapitalismus“, „Sozialdemokratismus“ oder als „Reaktion“ entgegentritt. Man hat sich zwar im Hinblick auf die — schon vor mehr als einem Jahrzehnt anvisierte! — „Sicherheitskonferenz“ als Spielregel auf die „friedliche Koexistenz“ geeinigt, aber diese gilt nur für das Leben der Staaten. Innerhalb der Staaten oder Staatengruppen gilt sie nicht. Sie schließt also „Bürgerkrieg“ nicht aus und daher auch nicht, was diesen fördert oder hemmt! Ja, so besehen, schließt sie auch einen „Interventionismus sui generis“ nicht aus ...

Neue „Fußangeln“ tun sich auf! Diese um so gefährlicher, als ja Ost und West, selbst wenn sie sich auf eine Verhandlungs- und Verständigungssprache einigen würden, mit gleichen Begriffen oft sehr weit voneinander abweichende Vorstellungen verbinden!

Auch Österreich könnte davon betroffen sein. Honnecker sprach in einem Interview, das er dem US-Journalisten Sulzberger gewährte, davon, daß er sich sehr wohl „eine Deutsche Nation vorstellen“ könne, „die in mehreren Staaten lebt“. Und was daran so besonders fatal ist, er schloß Österreich und die Österreicher nicht besonders nachdrücklich von dieser „möglichen Zugehörigkeit“ aus. Da wir es schon erlebt haben, wie „namens der Nation“ Souveränitäten mißachtet werden können und eine wie gute Verbrämung ein vorgeformter „nationaler Wille“ dafür liefert, daß sich auf Bequemlichkeit eingerichtet habende Weltmächte sich größter Inaktivität -.-keiücißigea,. wäre es.. — .spätestens! — auf der „Sicherheitskonferenz“ am Platze, eine deutliche Abgrenzung von so oder so ähnlich beschaffenen „nationalen Definitionen“ und „nationalen Deklarationen“ vorzunehmen.

Sowohl die Sozialdemokratie der Ersten Republik als auch die Christlichsozialen und späterhin auch das autoritäre Regime unter Dollfuß und Schuschnigg haben — leichtgläubig und arglos, gewiß! — die Version von „Österreich als zweitem deutschen Staat“ aufrechterhalten und unermüdlich gebraucht. Nicht zuletzt dies lieferte Hitler den — rechtswidrigen — Vorwand zum Einmarsch (der dann durch den „Selbstbestimmungsakt“ der „Anschlußabstimmung“ im April 1938 „legalisiert“ wurde) und den Alliierten den Vorwand, nicht einzugreifen. Sprache und Wirklichkeit treten eben auch in der Diplomatie in sehr intime Beziehung. Das gilt es, zu bedenken.

Gewiß, der deutsche „Grundvertrag“ hat ebenso wie die „Gewaltverzichtsabkommen“ für Deutschland und für die deutsche Nation nichts preisgegeben, was nicht schon verspielt worden wäre. Er ist eine Art staatsnotarielle Beglaubigung des Istzustandes, wie er sich seit 1945 ergeben hatte. Bis zu einem gewissen Grade ist er auch eine Beglaubigung des „Sollzustandes“, wie ihn BRD, DDR und die Alliierten derzeit wünschen und wie man ihn sich hinsichtlich „Gewaltverzichts“ wünschen sollte (obschon ja Gewaltverzicht nur die Staaten, nicht aber die in diesen Staaten organisierten oder noch nicht organisierten ideologischen Gruppen bindet).

Doch eines bleibt voller Dunkelheit: was wird aus der „Deutschen Nation“, aus den ihr eigenartigen Mystizismen, aus ihrer unabstreit-baren politischen Dynamik? Die Tatsache, daß hier Vertragswerke vorliegen, ineinandergerankt und voller heimlicher und auch offener Widersprüche, läßt auf Dauer nichts Gutes erwarten. So bliebe noch eines zu tun: für die Deutschen, für die Nachbarn und für die Welt — in nächster Zeit mehr Klarheit in die rechtlichen Grundlagen einfließen zu lassen. Man wird sehen, wer das nicht will...

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