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Ein Gebet in New York ...

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Adolf Hitler erfuhr von der Invasion am späten Morgen des 6. Juni. Er befand sich auf dem Berghof oberhalb Berchtesgadens und wartete dort auf das Eintreffen des neuernannten ungarischen Ministerpräsidenten. Das Gesicht des Führers soll nach Kenntnisnahme der Invasionsmeldung maskenhaft erstarrt sein. Er äußerte sich zu seiner Umgebung nur undeutlich, jedoch etwa in dem Sinn, daß ab heute das zermürbende Warten glücklicherweise vorüber sei. Die Erinnerung an seine letzte Inspektionsfahrt durch die Festuhgsanlagen entlang der Küste dürfte ihn gestärkt haben.

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Adolf Hitler erfuhr von der Invasion am späten Morgen des 6. Juni. Er befand sich auf dem Berghof oberhalb Berchtesgadens und wartete dort auf das Eintreffen des neuernannten ungarischen Ministerpräsidenten. Das Gesicht des Führers soll nach Kenntnisnahme der Invasionsmeldung maskenhaft erstarrt sein. Er äußerte sich zu seiner Umgebung nur undeutlich, jedoch etwa in dem Sinn, daß ab heute das zermürbende Warten glücklicherweise vorüber sei. Die Erinnerung an seine letzte Inspektionsfahrt durch die Festuhgsanlagen entlang der Küste dürfte ihn gestärkt haben.

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Die Schlacht wogte, und tatsächlich sah es einige Stunden lang so aus, als ob der deutsche Wehrmachtsbericht mit seiner Meldung vom 6. Juni nicht so unrecht hätte.

Schon das nächtliche Luftlandeunternehmen war nicht überall glatt vor sich gegangen, viele Fallschirmspringer und Lastenseglerbesatzungen ertranken in den Ufersümpfen, wurden zersprengt oder fielen bei der ersten Feindberührung. Die nachfolgende Invasion von See her oblag den Briten im Mündungsbereich der Flüsse Dives und Orne, während

die Amerikaner weiter westlich vor den Dörfern Sainte-Mere-Eglise und Saint-Laurent an Land gingen. Der Hauptstoß, der von US-Streitkräften geführt wurde, bohrte sich mitten in eine starke deutsche Verteidigungsposition hinein, die durch das vorangegangene Bombardement und die Fallschirmaktionen keineswegs ausgeschaltet worden war. Hier muß gesagt werden, daß die deutschen Abwehrmaßnahmen seit geraumer Zeit Feldmarschall Rommel zukamen, der den propagandaumwobenen Atlantikwall bauen ließ. Sein Grundsatz hiefür lautete, man müsse die Angreifer an den Landeplätzen fassen und sofort ausschalten, weil angesichts der Luftüberlegenheit des Feindes für spätere Offensiven gegen einen konsolodierten Brückenkopf wenig Chancen bestünden. Dementsprechend hart schlugen die Deutschen überall dort, wo sie die Bomben und Granaten der Alliierten überstanden hatten, auf die heran-watenten Truppen ein. Trotzdem kamen die Briten in ihrem Abschnitt verhältnismäßig gut über den Strand und trafen erst etwas weiter landeinwärts auf intakte deutsche Linien. Dem amerikanischen Zentrum ging es von Anfang an sehr schlecht. Schon im Wasser waren die Verluste hoch und die Verwirrung außerqr-dentlich, der Strand bedeckte sich bald mit Gefallenen, weggeworfenem Gerät und Explosionstrümmern. Die hohe Brandung trug unter den Offizieren ebenso zu betrüblichen Feststellungen bei wie die Erkenntnis, daß die Spionageabteilungen eine ganze deutsche Division übersehen hatten, die mit gut gezieltem Feuer

für entsprechenden Empfang sorgte. Erst am Nachmittag, als der Wehrmachtsbericht längst über alle großdeutschen Sender gefunkt worden war, gelang es den Amerikanern, Boden zu gewinnen und in die Dünen vorzustoßen. Die Kanonade der Flotte und die pausenlosen Luftangriffe von England her taten ihre Wirkung. Gegen Abend kämpften sich die US-Kolonnen bis nach Saint-Laurent, Colleville und Vierville-sur-Mer vor, während die deutsche Artillerie noch immer die Landeplätze bestrich. Im Madison Scware Garden

in New York beteten zur selben Stunde 50.000 Menschen um Gottes Gnade für die Invasoren.

Verpaßte Möglichkeiten

Die nächsten Tage brachten die schrittweise Vereinigung der einzelnen Brückenköpfe, während die Deutschen ihre SS-Eliteverbände heranholten. Sie. mußten zugeben, daß die Landung gelungen war, wenngleich der Durchbruch ins Innere verhindert werden konnte. Aber der Faktor Zeit begann für die Alliierten zu arbeiten, die innerhalb der nächsten drei Wochen 929.000 Männer, 177.000 Fahrzeuge und 586.000 Tonnen Kriegsmaterial an der normannischen Küste ausluden.

Der 6. Juni 1944 bedeutete die von vielen sehnlichst erwartete Wende der alliierten Kriegsführung, die bisher nur an der Peripherie des deutschen Machtbereiches wirksam zu werden schien. Auch die Einnahme Roms hatte den bisherigen Stil des alliierten Vorgehens nicht wesentlich geändert. W. S. Churchill galt als hervorragender Vertreter dieser Strategie, die das Risiko eigener Verluste möglichst klein halten und den Gegner durch rücksichtslose Luftangriffe zermürben wollte. Er war in diesem Sinn längere Zeit für eine weitere Verschiebung der Invasion sowie für die Überquerung der Adria eingetreten, welche alliierte Streitkräfte in begrenzter Zahl aus Italien nach Dalmatien und Slowenien bringen sollte. Hauptziel wäre der Stoß durch das Laibacher Becken in die österreichisch-ungarischen Ebenen gewesen, also eine Operation, die auch heute wieder von verschiedener

Seite ventiliert wird. Die politische Tragweite dieses Planes für Nachkriegseuropa lag auf der Hand, aber desgleichen auch die Möglichkeit, daß sich der Zweite Weltkrieg sehr in die Länge ziehen würde. Man darf nicht vergessen, daß die Amerikaner erwarteten, die Entscheidung in Frankreich werde die Kapitulation Deutschlands unmittelbar mit sich bringen. Überdies war die Türkei nicht bereit, an der nötigen Ausdehnung einer Balkanfront aktiv mitzuarbeiten. Allerdings, der 6. Juni hätte eine weitere Variante möglich gemacht, die heute längst vergessen ist, aber doch wesentliche politische Veränderungen bis in die Gegenwart in sich barg. Die Landung in der Nor-mandie sollte ursprünglich von einer Landung in Südfrankreich begleitet werden, doch diese Operation unterblieb zunächst aus Mangel an Schiffsraum und Landungsfahrzeugen. Etwa einen Monat nach der Invasion in Nordfrankreich, als die alliierten Stäbe bereits mit einem großen Sieg in diesem Gebiet rechnen konnten, erfolgte die verspätete Wendung an

der französischen Mittelmeerküste. Die Deutschen setzten sich dort lediglich deshalb zur Wehr, um die Rückzugsstraßen offen zu halten; denn die Ereignisse an der normannischen Front machten ihren Abmarsch dringend nötig.

Noch 14 Tage vorher sah die Sache oben in Nordfrankreich anders aus. Die Angloamerikaner hatten die blutigen Erfahrungen der Landung zwar hinter sich, aber manches Bittere wirkte lange nach. Den Engländern war das Landen in ihrem Abschnitt leichter gefallen als den US-Soldaten, und zwar deshalb, weil sie wegen der Gezeiten etwas später damit anfingen. Bomber und Schifffahrtsartillerie kamen daher länger zum Einsatz. Bei ihnen sowie am rechten amerikanischen Flügel funktionierten auch die Fallschirmspringer; nur in der Mitte der Landezone war das Gefecht entsetzlich gewesen und Wesentliches schief gegangen. Hier fehlten die gepanzerten US-Schwimmtanks, die am pazifischen Kriegsschauplatz bereits erprobt werden konnten. Ähnliches Gerät britischer Herkunft, das großteils verwendet wurde, erwies sich als weniger geeignet. Die 3000 amerikanischen Gefallenen und die 3184 Verwundeten des 6. Juni 1944 sowie etliche Vermißte gingen in ihrem Großteil auf die Operationen bei diesem Brückenkopf zurück. Die Briten hatten am gleichen Tag etwa 2000 Tote und ebensoviele Verwundete, die Deutschen schätzungsweise 4000 Tote und annähernd gleich viele Verletzte. Die Invasion ging daher nicht so planmäßig weiter, wie dies Churchill im Unterhaus gesagt hatte, wenn-

gleich die Wirkung der rollenden Luftangriffe und die Sabotageaktionen der Franzosen stärkere Wirkung erzielten, als die Alliierten erwarteten. Wie angedeutet, mußten die Angloamerikaner nach Einnahme der ersten Ortschaften und Städte drei Wochen lang auf der Stelle treten, und die Gegenoffensiven Feldmarschall Rundstedts aushalten, während George Pattons 3. Armee zwi-

schen den Obstplantagen der Coten-tinhalbinsel in aller Stille für den großen Durchbruch vorbereitet wurde. Verlassen wir daher\das normannische Schlachtfeld und wenden wir uns einer Untersuchung der Situation auf der Apenninenhalbinsel zu, wo die Kämpfe zur selben Zeit dramatisch weitergingen.

Am 17. Juni 1944 griffen Landungsstreitkräfte des französischen Korps in Italien die Insel Elba an und besetzten das Eiland, nachdem sich die deutsche Garnison von mehr als 1000 Mann ergeben hatte. Am 2. Juli erreichte die 5. amerikanische Armee Cecina, wo die Deutschen zum erstenmal seit Rom ernsthaften Widerstand leisteten. Am nächsten Tag besetzten Amerikaner und Franzosen Siena, überwanden etwas später starken deutschen Widerstand vor Volterra und eroberten das zäh verteidigte Livorno am 19. Juli 1944. Gleichzeitig damit nahmen polnische Truppen, die entlang der adriatischen Küste vorgestoßen waren, Stadt und Hafen Ancona ein. Am 23. Juli räumten die Deutschen die letzten Landstriche südlich des Arno, während die US-Patrouillen in die Vorstädte Pisas eindrangen. Um den Besitz dieser Stadt wurde bis Anfang September gerungen. Inzwischen war die 8. britische Armee durch Umbrien und die Toskana vorangekommen, hatte Perugia erobert und den Tra-simenischen See erreicht. Der Durchbruch bei Arezzo öffnete ihr den Weg nach Florenz, das am 29. Juli von den Deutschen nach heftigen Straßenkämpfen aufgegeben werden mußte. Damit standen die Alliierten vor der Gotenlinie, die Hitlers Wehr-

macht seit längerer Zeit ausgebaut hatte. Dieses Festungssystem sollte ebensogut und ebensolange standhalten wie die Winterlinie am Monte Cassino ein Jahr vorher.

Wie gesagt, am 15. August erfolgte die Invasion Südfrankreichs mit Truppen und Gerät, das den Alliierten in Italien entzogen worden war. Wie anders hätten sich die Dinge entwickeln können, wenn die gleichen Kräfte im Golf von Genua an Land gegangen wären oder einen Brückenkopf an der Küste Vene-ziens gebildet hätten! Gleichzeitig damit hätte die alliierte Italienarmee eine neue Offensive beginnen und zur Poebene durchstoßen müssen. Dann wären die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges noch vor den Herbstregen erreicht worden und die Deutschen gezwungen gewesen, sowohl gegen die Russen, Jugoslawen und andere Hilfsvölker, wie auch gegen die Westmächte und ihre Bundesgenossen auf relativ exponiertem Raum Front zu machen, und zwar, wohlgemerkt, im Frühherbst 1944, als die Amerikaner bei Aachen erstmals deutschen Boden betraten.

Dieser faszinierende Gedanke hat allerdings einige Schönheitsfehler. Erstens ging die Invasion im Norden Frankreichs nicht so glatt vor sich, wie die militärischen Optimisten in London und Washington gehofft hatten. Der große Durchbruch gelang später als erwartet, die Vernichtung des deutschen Westheeres erfolgte nicht im erwünschten Ausmaß. Das große Risiko einer Umdisponierung an den Ufern des Mittelmeeres war deshalb kaum zu übersehen. Zweitens zeigten sich die Deutschen in Oberitalien viel stärker, als es ihnen angesichts der dauernden Niederlagen gegenüber der Roten Armee und gemessen an ihrem verlustreichen Rückzug aus Frankreich zukam. Das Dritte Reich war noch immer befähigt, Schwerpunkte zu bilden, wie dies die Ardennenoffensive im Winter 1944/ 45 beweisen sollte. Merkwürdigerweise schufen die deutschen Machthaber diese Schwerpunkte 1944 stets gegen den Westen, so in Holland, an der Reichsgrenze von Basel bis in die Eifel, und nördlich von Florenz. Die Angloamerikaner hatten also Grund, weiterhin sehr vorsichtig zu sein. Schließlich darf man die Grenzen des alliierten Potentials trotz seines Umfanges nicht übersehen. So war es den Alliierten' verwehrt, eine Angriffsoperation durch die Seealpen und entlang der Riviera gegen Osten zu führen, es entstand dort vielmehr eine total vergessene Front. Desgleichen begannen die Deutschen 1944 mit ihrem Rückzug aus Griechenland, ohne dabei von den Engländern nachhaltig gestört zu werden. Britische Regimenter landeten und verfolgten die abziehende Wehrmacht Hitlers derart zögernd, daß sich die Griechen völlig respektlos in ihren eigenen Bürgerkrieg stürzten, die ordnende Kraft der Alliierten also gering achteten. Die Invasion des 6. Juni 1944 an der normannischen Küste bedeutete nicht das Ende Deutschlands, wohl aber den Anfang vom Ende. Ob diese entsetzliche Prozedur schneller vor sich gegangen und Europa „weniger russisch“ geworden wäre, wenn die Alliierten im Sommer 1944 auch die Poebene durchschritten hätten, vermag heute niemand mit Bestimmtheit zu sa- , gen.

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