6884720-1979_22_13.jpg
Digital In Arbeit

Ein Gewissen gegen Gewalt

Werbung
Werbung
Werbung

Zweig schrieb dieses Werk Mitte der dreißiger Jahre und läßt jene Jahre lebendig werden, in denen Calvin eine Diktatur im Stadtstaat Genf ausübte und weit darüber hinaus wirkte. Derart wird der historische Essay auch zum Spiegel des von Zweig erlebten und erlittenen Zeitgeschehens; immer wieder finden sich Betrachtungen, die sich auf die Gegenwart beziehen lassen. „Man täusche sich nicht“, heißt es zum Beispiel einmal, „Gewalt, die vor nichts zurückschreckt und jeder Humanität als einer Schwäche spottet, ist eine ungeheure Kraft“.

Was sich für Zweig nach 1933 abzeichnete - die immer totalere Erfassung des Menschen durch ein Terrorregiment - erfuhren die Zeitgenossen Calvins. Der Kampf ging um Dogmen und Prinzipien. Mit fanatischem Haß verfolgte er jeden, der von seiner Lehre abwich, als Ketzer. Ihren Höhepunkt erreichte diese Verfolgungswelle mit der Hinrichtung des spanischen Arztes Servet am 29. Oktober 1553. Die Todesart, die ihm Calvin zudachte, war die martervollste aller Hinrichtungsarten: der Tod am Brandpfahl durch langsames Rösten bei kleinem Feuer. Zweig stellt diesen Fall Servet ausführlich dar, weil er das auslösende Moment wurde für Castellio, seine Stimme des Gewissens gegen Calvin zu erheben.

Schon Jahre davor war Castellio als französischer Emigrant mit Calvin in Berührung gekommen, hatte seinen Zorn erregt, als er in Genf als Lehrer wirkte, und hatte Genf verlassen und Jahre äußerster Armut erdulden müssen, bis er in Basel aufstieg vom Korrektor einer Druckerei bis zum Professor an der Universität Basel, beschäftigt mit seinem Lebenswerk, einer Übertragung der Bibel ins Lateinische und Französische. Inmitten der sich steigernden Erregung über die Ermordung Servets aber ergreift er das Wort: „Ich frage dich, Herr Calvin“, beginnt er seine Anklageschrift, „wenn du mit jemand einen Prozeß in einer Erbsache hättest und dein Gegner erreichte vom Richter, daß er ihn allein sprechen ließe, während er dir verbieten würde, das Wort zu ergreifen, würdest du dich da nicht auflehnen gegen diese Ungerechtigkeit! Bist du so sehr von der Armseligkeit deiner Sache überzeugt, befürchtest du so sehr, besiegt zu werden und deine Macht als Diktator zu verlieren?“ Damit ist die prinzipielle Anklage gegen Calvin bereits formuliert. „Ein Gewissen erhebt sich gegen die Gewalt“ und „Die Gewalt erledigt das Gewissen“ betitelt Zweig die zwei Kapitel, in denen er den ungleichen Kampf der beiden- einer Mücke gegen den Elefanten -schildert: er endet mit Castellios Tod am 29. Dezember 1563, durch den ihm ein vielleicht ähnliches Schicksal wie das Servets erspart blieb.

EIN GEWISSEN GEGEN DIE GEWALT. Von Stefan Zweig. S. Fischer, Frankfurt 1979. 208 Seiten. Ln., öS 218,40.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung