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Ein Gewissen hält Wache

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Hundert Jahre nach der Geburt von Stefan Zweig wirken seine Bücher irr^ mer noch lebendig. Ihre moralische Qualität gewinnt, aus der Distanz der Zeit betrachtet, an Bedeutung. Die Zweig-Biographie des Germanisten Joseph Streiką bietet ein wissenschaftlich fundiertes Bild des umfassenden Werkes.

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Hundert Jahre nach der Geburt von Stefan Zweig wirken seine Bücher irr^ mer noch lebendig. Ihre moralische Qualität gewinnt, aus der Distanz der Zeit betrachtet, an Bedeutung. Die Zweig-Biographie des Germanisten Joseph Streiką bietet ein wissenschaftlich fundiertes Bild des umfassenden Werkes.

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Goethe zufolge geben die Götter ihren Lieblingen alles ganz, alle Freuden, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz… Wollte sich der moderne Soziologe darauf versteifen, in Stefan Zweig, geboren in einem Ringstraßenhaus unweit der Börse, zunächst nur den „Privilegierten“ einer Großindustriellenfamilie aus der Welt von Gestern zu sehen, so müßte er bei sorgfältigerer Analyse doch bald eingestehen, daß die sinnvollen Koinzidenzen in Stefan Zweigs Leben weit über all das hinausreichen, was die berüchtigten oder beneideten Privilegien jemals zu vollbringen vermögen.

Gewiß bot das reiche und liberale Elternhaus seinem Talent eine großzügige Starthilfe, gönnte seiner Entwicklung die Weiträumigkeit ausgedehnter Reisen, ersparte ihm mit ihrer vornehmen Fülle die Mühsal des Erwerbs.

Schwächen und Mängel dieser frühen Arbeiten paßten allesamt just in den blinden Fleck, mit dem jeder Zeitstil und dessen Optik behąftet ist. In der weiteren Entwicklung aber vermochte Stefan Zweig diesen Vorschuß an Erfolg und Anerkennung zu rechtfertigen.

Seit 1914 kam es jedoch zu einer immer härteren Engführung seiner Lebensmotive, aller fördernden und bedrohenden Kräfte in seiner Umwelt und in ihm selber. Wenn diesem Liebling der Götter auch dreimal Haus und Existenz umgeworfen wurden und er selber mit dramatischer Vehemenz ins Leere geschleudert wurde, so sehen wir ihn doch nach der Inflationskatastrophe von 1922 in einem Schlößl auf dem Kapuzinerberg, nach der Emigration von 1938 in seinem Haus in Bath, einigermaßen vergleichbar den herrschaftlichen Lebensverhältnissen in Salzburg, und schließlich in Brasilien, unweit des Sommersitzes Pedros II., hochverehrt und staatlich betreut.

Holen wir andere Emigrantenschicksale ins Bewußtsein, so erweist sich, daß in Stefan Zweigs Leben die Geschichte als Dichterin immer wieder mit behutsamer Phantasie eingegriffen hat, um

ein Kostbares so lange wie nur möglich zu schützen.

Denn dieser große Mittler zwischen Kulturen, Nationen, Rassen und disparaten Weltanschauungen, diese „erasmische Persönlichkeit“, die aber, was Liebesfä- higkeit und Hingabe anlangt, dem Erasmus von Rotterdam überlegen gewesen zu sein scheint, ent-

faltete ihre großen Fähigkeiten umso gewissenhafter, je mehr sie selber und mit anderen litt, bis endlich der Schwellenwert ihrer Leidensfähigkeit erreicht war.

So gehören denn Freitod und pompöses Staatsbegräbnis in fremder Erde zu den Gegensätzlichkeiten, die sich bisher wohl kaum jemals zu einer Schicksalsfigur zusammengeschlossen ha-

ben. Zwei bedeutende Frauen haben seinen Weg begleitet, die eine bis zur Hingabe in einem gemeinsamen Freitod, die andere über Stefan Zweigs Tod hinaus in umsichtiger Arbeit für die Geltung seines Werks und seiner Person.

Unter den vielen kleinen „Regiewundern“ seines Lebens sei nur eines herausgegriffen: Was war dieses alte Österreich doch für ein Staat, der seinen Wehrdienstpflichtigen nach Zürich gehen ließ und dort dessen journalistische Tätigkeit für den Frieden legitimierte!

Solche Schicksalsgunst des Überlebens gönnten „die Götter ihrem Liebling“ bis nach Brasilien, bis in die Villa von Persepolis, wo dann Stefan Zweig ohne sein riesiges Material an Skizzen, Aufzeichnungen und Entwürfen, ohne alle literarischen Hilfsmittel, nur noch mit dem, was er hinter seiner Stirne besaß, sein Lebens

werk fortzusetzen hatte: Sein Memoirenbuch „Die Welt von Gestern“.

Um aus dieser Welt von Gestern das Bleibende in die Welt von Heute hinüberzuführen und zu retten ist Professor Joseph Streiką der richtige Autor. In seinem Zweig-Buch „Freier Geist der Menschlichkeit“ ist dies gelum gen, weil in Streiką eine Reihe von Bedingungen Zusammentreffen, die sonst nur schwer zu vereinbaren sind. Ebenso wie Zweig ist Streiką, geboren in Wiener Neustadt, durch und durch österreichisch geprägt, aber weltweit „gefaßt“.

Als Wahlamerikaner wurde er zum Weltbürger. Wie Zweig kennt er Akribie der Materialsammlung, ohne die schriftstellerische Begabung einzubüßen, die darin besteht, gelöst von allen Unterlagen, ein weites geistiges Panorama zu entwickeln und ein unmittelbar anspringendes Gefühl zu vermitteln. Bei aller Exaktheit und Behutsamkeit, mit der er die Zusammenhänge zwischen dem äußeren und inneren Lebensgang aufzeichnet, verliert er doch seine Zielsetzung niemals aus den Augen: Stefan Zweig mit demselben freien Geist der mitfühlenden Menschlichkeit zu verlebendigen, den Stefan Zweig selber in seinen großen Biographien bewahrt hat.

Dies aber ist das Motiv, das auch den literarischen Biographien Stefan Zweigs zugrunde liegt, sei es, daß er das Humane durch dessen Gegenbild (Joseph Fouchė des Machtmenschen, der gefährlichsten Spezies unseres Lebens), sei es, daß er das Humane durch exemplarische Charaktere verdeutlicht: Erasmus von Rotterdam, Castellio gegen Calvin, ein Gewissen gegen die Macht, oder zuletzt Montaigne, Selbstbewahrung als Selbstbescheidung in einer Phase allgemeiner Auflösung.

Der Mittler Stefan Zweig, unter den Interpreten von Weltrang wohl einer der größten, hat seinerseits den Mittler gefunden, der nun ebenfalls die Interpretation nicht als die stolze Herrschaft über ein Material, sondern als Dienstbarkeit am Leser, an einem Toten und an einer lebendigen Idee ausübt.

STEFAN ZWEIG. Von Joseph Streiką. Bundesverlag, Wien 1981,166 Seiten, öS 198,-

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