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Ein Graf in Moskau

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Vor fünfzig Jahren, im Sommer 1922, nahm das Deutsche Reich diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf. Zum ersten Botschafter war Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau ausersehen, der sich 1919 seelisch und körperlich gebrochen auf sein Gut Annettenhöh zurückgezogen hatte, nachdem er als Außenminister mit dem Kabinett Scheidemann anläßlich der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zurückgetreten war. Im Frühjahr 1922 hatte Berlin mit Moskau den Vertrag von Rapallo geschlossen. Zwei verfemte Mächte hatten ihre gemeinsamen Interessen entdeckt, auf alle Reparationen verzichtet, im Handel die Meistbegünstigung vereinbart und sich auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen geeinigt. An Hand des Privatnachlasses des ersten westlichen Botschafters in der Sowjetunion schildert Ladislaus Singer die Vorgeschichte der Ernennung Brockdorff-Rantzaus und zeichnet ein Bild seiner Tätigkeit in Moskau.

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Vor fünfzig Jahren, im Sommer 1922, nahm das Deutsche Reich diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf. Zum ersten Botschafter war Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau ausersehen, der sich 1919 seelisch und körperlich gebrochen auf sein Gut Annettenhöh zurückgezogen hatte, nachdem er als Außenminister mit dem Kabinett Scheidemann anläßlich der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zurückgetreten war. Im Frühjahr 1922 hatte Berlin mit Moskau den Vertrag von Rapallo geschlossen. Zwei verfemte Mächte hatten ihre gemeinsamen Interessen entdeckt, auf alle Reparationen verzichtet, im Handel die Meistbegünstigung vereinbart und sich auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen geeinigt. An Hand des Privatnachlasses des ersten westlichen Botschafters in der Sowjetunion schildert Ladislaus Singer die Vorgeschichte der Ernennung Brockdorff-Rantzaus und zeichnet ein Bild seiner Tätigkeit in Moskau.

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Brockdorff-Rantzau zeigt sich von Rapallo zunächst tief beunruhigt. „Jetzt haben wir uns den Russen ausgeliefert. Wir sind an Rußland gekettet und werden von der Sowjetregierung in eine Katastrophenpolitik hineingetrieben werden. Die Sowjetregierung verfolgt ihr altes Ziel, die Welt zu revolutionieren und wird versuchen, in Deutschland damit zu beginnen. Die Russen kommen nicht zu unserer Hilfe gegen die Entente, sondern sie kommen, um die Grenze Asiens an den Rhein vorzuschieben.“

Reichspräsident Ebert ist der Ansicht, der Vertrag von Rapallo werde nur funktionieren, wenn Deutschland durch einen besonders tüchtigen Diplomaten in Moskau vertreten werde.

Ago von Maltzan, dem geistigen Vater des Vertrags, gelingt es, Brockdorff-Rantzau für seine Vorstellungen zu gewinnen. Und da die Ostorientierung durchaus zur AntiVersailles-Einstellung des Grafen paßt, erwacht plötzlich sein Interesse, das Reich in Moskau zu repräsentieren. Vor Freunden erklärt der Graf, der einst Legationsrat in Sankt Petersburg war: „Ich glaube, daß von Moskau aus das Unheil von Versailles korrigiert werden kann.“

Im Sommer 1922 bietet Friedrich Ebert Brockdorff-Rantzau den Botschafterposten in Moskau an. In seiner Antwort schreibt der Graf: „Daß Rußland gegenwärtig von einer Verbrecherbande regiert wird, unterliegt keinem Zweifel. Wir müssen aber aus Gründen der auswärtigen und der inneren Politik Anlehnung an Moskau suchen.“ Für die Übernahme des Botschafterpostens stellt Brockdorff-Rantzau ungewöhnliche Bedingungen. Dazu gehören: direkte Fühlung zwischen dem Reichspräsidenten und dem Botschafter unter Umgehung des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes, weitgehende Entschluß- und Handlungsfreiheit, Festlegung eines von ihm ausgearbeiteten politischen Programms.

Ebert ist mit diesen Bedingungen einverstanden. Nicht so Reichskanzier Wirth, der schon deshalb mißtrauisch ist, weil er ohne Wissen Eberts und des Kabinetts, zusammen mit der Reichswehrführung, an ihrer Spitze General von Seeckt, geheime Verbindungen zur Roten Armee eingefädelt hat. Wirth und Seeckt planten auf diese Weise, die militärischen Klauseln des Versailler Vertrages zu umgehen. Anfang September 1922 sagt

Brockdorff-Rantzau Reichskanzler Wirth auf den Kopf zu: „Ich habe inzwischen festgestellt, daß die Militärs schon im Jahre 1920 direkte Verhandlungen mit Trotzki geführt hatten und daß General Seeckt noch vor Ihrem Amtsantritt mit Krupp und anderen Großindustriellen verhandelte. Aus dem schwarzen Fonds der Heeresleitung wurden den Russen Millionenbeträge — 100 Millionen und noch mehr — für den Bau von Flugzeugen und Waffenfabriken zur Verfügung gestellt. Ich möchte wissen, woher dieser schwarze Fonds stammt. Ich möchte Sie nun fragen: Kennen und billigen Sie die Schritte der Militärs? Ist Reichspräsident Ebert informiert? Weiß das Kabinett, wenigstens der Vizekanzler und der Reichswehrminister, über diese Aktion?“

„Die Schritte des Generals Seeckt sind mir im allgemeinen, nicht aber im einzelnen bekannt“, erwiderte Wirth ausweichend. „Der Reichspräsident und das Kabinett sind nicht informiert worden. Einen schwarzen Fonds besitzt die Heeresleitung nicht.“

„Herr Reichskanzler, ich gelte als Trutz-Minister und Trutz-Botschafter“, hält ihm Brockdorff-Rantzau entgegen, „kein Mensch würde glauben, daß ich nichts von diesen Aktionen gewußt habe ... Nun gut, was bisher in Rußland militärisch geschah, will ich, weil ich keine Verantwortung dafür trage, als Tatsache behandeln. Aber mein persönliches und politisches Verhältnis zum Reichspräsidenten ist zu freundschaftlich, um mir eine Politik ohne sein Wissen zu gestatten.“

Auf Wirths Einwand, der Reichspräsident brauche nicht informiert zu sein, erwidert der Graf: „Verfassungsmäßig vielleicht nicht, für mich persönlich ist es jedoch unerläßlich.“ Da alle seine Bedingungen angenommen werden, akzeptiert der Graf offiziell seine Ernennung zum deutschen Botschafter in Moskau.

Gespräche in der Nacht

Bei einem Diner lernt Brockdorff-Rantzau seinen russischen Gegenspieler kennen. Volkskommissar Tschitscherin, der sich in Berlin aufhält, spricht ihn nach dem Essen an: „Herr Graf, es ist höchste Zeit, daß Sie kommen. Wann wollen Sie reisen?“ „Voraussichtlich in 14 Tagen“, anwortet Brockdorff-Rantzau. „Das ist gut und unbedingt nötig“, freut sich der Außenkommissar. „Wir müssen einen Botschafter haben, der Vollmachten zum Verhandeln besitzt. Wir wollen Frieden, und wir wollen internationale große Politik machen.“

Genau das will auch Brockdorff-Rantzau. Wie im ersten Weltkrieg eint Bolschewisten und Reichsregierung das gleiche Ziel. Damals wollten beide den Sturz des Zaren, jetzt verbindet sie der gemeinsame Wunsch, sich der drohenden Isolierung zu entziehen. Und wieder ist es Brockdorff-Rantzau, dem im Schnittpunkt der Interessen die Rolle des Mittlers zufällt. Schon als er sich 1915 als kaiserlicher Gesandter in Kopenhagen um die Förderung der russischen Revolution bemühte, hatte er konstatiert: „Wer die Zeichen der Zeit nicht versteht, wird nie begreifen, wohin wir treiben und was jetzt auf dem Spiele steht.“

Bei seinem Eintreffen in Moskau findet der Botschafter ein zerrüttetes, fast chaotisches Sowjetreich vor. Hungersnot und Armut herrschen. Im Rahmen ihrer „neuen ökonomischen Politik“ (NEP), die der Privatwirtschaft wieder erhebliche Zugeständnisse machen muß, brauchen die Bolschewiki dringend Hilfe. Und Brockdorff-Rantzau gibt ihnen diese Hilfe in reichem Maße. Während seiner sechsjährigen Tätigkeit in Moskau, von 1922 bis 1928, ist es durchweg so, daß die Reichsregierung gibt, der Kreml hingegen nimmt. Brockdorff-Rantzau hat richtig gesehen, daß der Vertrag von Rapallo ein ungleiches Geschäft ist.

General Helm Speidel, damals auf dem deutschen Flugplatz Lipezk bei Woronesch tätig, über die deutsche Hilfe an die Rote Armee: „Die Deutschen gaben, die Russen nahmen. Sämtliche Vorschriften, alle taktischen und operativen Studien, die Richtlinien für Ausbildung und Einsatz, selbst die organisatorischen Planungen der Aufrüstung, kurz ein Material, das in der Reichswehr selbst strengster Geheimhaltung unterlag, wurde Moskau zur Verfügung gestellt. Dies geschah ohne Vorbehalt und ohne Gegenleistung.“

Zum Verständnis der russischen Überlegungen ist die offizielle Version über Rapallo von Interesse, dargelegt in der parteiamtlichen „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“:

„Im April 1922 wurde in Rapallo ein sowjetisch-deutscher Vertrag unterzeichnet. Mit dem Vertrag hat die Sowjetregierung eine Bresche in die Front der imperialistischen Mächte geschlagen. Sie hat es meisterhaft verstanden, die imperialistischen Widersprüche im Interesse des Friedens und der Sicherheit Sowjetrußlands auszunutzen.“

Brockdorff-Rantzaus Partner in Moskau, Außenkommissar Tschitscherin, stammt aus einer adeligen Familie und gehörte schon früh zur revolutionären Bewegung. Er war es, der 1922 die russische Delegation nach Genua und Rapallo führte. Dieser kommunistische Edelmann, hochgebildet und diplomatisch erfahren, ist ein idealer Verhandlungspartner für den deutschen Aristokraten. Der Kontakt ist schnell hergestellt. Die nächtlichen Besuche Tschitscherins bei dem Grafen werden immer häufiger. Gesprächsthemen sind Kunst, Literatur, Philosophie. Politik nur am Rande. Der Inhalt der deutsch geführten Konversation und des Briefwechsels ist meist privater Natur. Die beiden einsamen Einzelgänger kränkeln — ein unerschöpfliches Thema für ihre Korrespondenz.

Unterdessen herrschen in Deutschland alarmierende Zustände. Eine unvorstellbare Inflation lähmt das Wirtschaftsleben; die Franzosen besetzen das Ruhrgebiet; kommunistische Umtriebe unterminieren den Staat.

Entgegen den Abmachungen von Rapallo versuchen die Bolschewisten um jeden Preis, aus den politischen und wirtschaftlichen Wirren Kapital zu schlagen. Die bewährtesten Propagandisten des Kremls werden nach Deutschland gesandt, um die Revolution vielleicht doch noch zu entzünden. Moskau erteilt genaue Instruktionen mit Terminplänen für den Aufstand. Im Ruhrgebiet wird der Generalstreik ausgerufen; Kommunisten treten in die sächsische und die thüringische Landesregierung ein. All diese Ereignisse finden in der Korrespondenz zwischen dem Botschafter und dem Außenkommissar keinen Niederschlag. Das harmonische Verhältnis bleibt ungetrübt.

Inzwischen ist Stresemann Außenminister geworden. Brockdorff-Rantzau versteht sich mit ihm ausgezeichnet. Aber die deutsch-russischen Beziehungen bereiten Stresemann Kummer.

„Mit Ihrem Auftreten den Russen gegenüber bin ich durchaus einverstanden“, schreibt der Außenminister im Dezember 1923 seinem Botschafter in Moskau. „Leider sind die Verhältnisse in Deutschland selbst so unerfreulich. Sie geben ein sehr trauriges Bild. Dahin gehören die kommunistischen Bestrebungen. Die werden mit russischem Geld finanziert, und das ist das Bedenkliche an unserem Verhältnis zu Sowjetrußland.“

Locarno enttäuscht Moskau

Der Versuch der Bolschewisten, in Deutschland die Revolution zu entfesseln, scheitert. In Moskau folgen peinliche, provozierte Zwischenfälle. Brockdorff-Rantzau interveniert bei Prozessen gegen deutsche Staatsangehörige. Sie hindern ihn jedoch nicht, den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes unter Einschaltung deutscher Großkonzerne wirkungsvoll zu unterstützen.

Der Tod Lenins im Jänner 1924 löst einen blutigen Machtkampf in der sowjetischen Partei- und Staatsführung aus. Es sind schwere Zeiten für den deutschen Botschafter. Das Jahr 1925 zeigte dann deutlich die tiefe Kluft zwischen Deutschland und der Sowjetunion.

Das Abkommen von Locarno zeichnet sich ab und damit eine Entspannung im Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten. Dem Kreml droht erneut das Gespenst der Isolierung. Mit allen Mitteln versuchen die Sowjets, den Vertrag von Locarno zi verhindern. Tschitscherin gewinnt dabei die volle Unterstützung Brockdorff-Rantzaus, der eine Vereinbarung mit der Entente zumindest für verfrüht und unvorteilhaft hält.

Nach Eberts Tod wird Hindenburg Reichspräsident. Der alte Feldmarschall schätzt den Grafen und verlangt immer wieder seinen Rat; doch Proteste gegen den geplanten Vertrag von Locarno bringen Brockdorff-Rantzau in Gegensatz zu Stresemann. Es kommt zu scharfen Auseinandersetzungen.

Die Russen empfinden den Abschluß des Locarno-Paktes im Dezember 1925 als harten Schlag. Brockdorff-Rantzau ist es, der die Wirkung abschwächt: Hauptsächlich auf seinen Druck hin kommt ein Handelsvertrag mit dem Kreml zustande, um den die Sowjets seit Jahren gerungen haben. Ihm folgt im April 1926 der sogenannte „Berliner Vertrag“, ein Freundschafts- ud Neutralitätsabkommen mit der Sowjetregierung, das im Kreml noch heute „Rantzauischer Vertrag“ genannt wird. Auch einen Kredit von 300 Millionen Mark, den die Reichsregierung der Sowjetunion gewährt, verdanken die Bolschewisten den Bemühungen des deutschen Botschafters.

Nachruf in der „Prawda“

Die Hoffnungen, die Brockdorff-Rantzau an den Berliner Vertrag knüpft, erfüllen sich indes nicht. Weder die private Freundschaft zu Tschitscherin noch sein inniger Wunsch nach einer echten Entspannung können den deutschen Botschafter darüber hinwegtäuschen, daß seine Moskauer Mission letztlich gescheitert ist.

Am 11. September 1928 widmet die Moskauer Parteizeitung „Prawda“ dem deutschen Grafen einen ungewöhnlichen Nekrolog:

„Der ehrgeizige, aristokratisch hochfahrende Graf erwies sich als der allerloyalste, allerwohlwol-lendste, allerzugänglichste und daher allerangenehmste bürgerliche Botschafter im roten Moskau.“

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