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Ein halbes Blatt Papier

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Wann wurden zwischen „Ost" und „West" die politischen Weichen für das heutige Osteuropa gestellt? Wann begann das Feilschen zwischen den Großmächten um die Völker und Nationen, ohne daß diese über ihr Schicksal selbst bestimmen durften?

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Wann wurden zwischen „Ost" und „West" die politischen Weichen für das heutige Osteuropa gestellt? Wann begann das Feilschen zwischen den Großmächten um die Völker und Nationen, ohne daß diese über ihr Schicksal selbst bestimmen durften?

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Nachdem heute die meisten Archive der Westmächte für die zeitgeschichtliche Forschung geöffnet sind, kann man mit ruhigem Gewissen die These vertreten, daß Osteuropas Entwicklung seit 1945 eigentlich an drei Konferenzen entschieden wurde.

Da war einmal die Konferenz von Teheran, wo im November 1943 endgültig beschlossen wurde, daß die europäische „Zweite Front" gegen das Deutsche Reich, die „Invasion", im kommenden Frühling weit weg vom sowjetischen Operationsgebiet in Frank-reich eröffnet und damit Churchills Plan einer Balkan-Variante stillschweigend begraben werden sollte.

Eine solche Lösung, rechtzeitig geplant und sorgfältig ausgeführt, hätte den Krieg in Europa wesentlich abgekürzt und Millionen von Menschen in Osteuropa die Demokratie gebracht. Eine erfolgreiche Landung anglo-ameri-kanischer Truppen im westlichen Balkan hätte die meisten Regierungen im Donauraum dazu bewogen, mit fliegenden Fahnen ins westliche Lager überzuwechseln.

Rumänien und Ungarn hatten zu diesem Zeitpunkt bereits genug vom deutschen Bündnis und strebten nach dem Debakel von Stalingrad (1943) einen Separatfrieden mit den Westalliierten an, um den Krieg zu beenden.

1943 bestand bereits ein geheimes Abkommen zwischen Großbritannien und Ungarn, wonach die Königliche Honved-Armee sofort die Waffen strecken würde, wenn britische Truppen irgendeinen Teü der ungarischen Grenze erreichten. Ähnliche* Kontakte bestanden dank neutraler Vermittlung auch zwischen London und dem rumänischen Königshof.

In Bulgarien war die politische Lage insofern für einen Separatfrieden günstiger, als sich dieses Balkanland eigentlich nur mit Großbritannien und den USA im Krieg befand. Mit der Sowjetunion wurden normale diplomatische Beziehungen aufrechterhalten. Zar Boris III. hatte Hitlers Drängen nicht nachgegeben und im Juni 1941 nicht wie alle anderen Partner des Deutschen Reiches am Ostfeldzug teilgenommen.

Stalin wußte sehr wohl, weshalb er sich 1943 in Teheran dafür einsetzte, daß die Landung der westlichen Armeen möglichst weit weg vom Balkan und vom Donauraum am anderen Ende des Kontinents stattfinden sollte.

Bereits im Winter 1943/44 rechnete Stalin damit — wie die Memoiren seines Generalstabschefs bezeugen —, daß die Rote Armee nach der Vertreibung der deutschen Truppen von sowjetischem Territorium „bald" osteuropäischen Boden betreten würden. Und wo einmal seine Soldaten standen, hätten andere nichts zu suchen!

Und in der Tat: Kaum hatte Rumänien im August 1944 die Fronten gewechselt, rückte die Rote Armee in drei mächtigen Kolonnen über die rumänische Hochebene nach Norden, Süden und Westen vor. Die britische Militärmission, die auf Einladung König Michaels von Kairo kommend in Bukarest eintraf, mußte auf strikte Anordnung Stalins hin Anfang September 1944 Rumänien wieder verfassen.

Und während sich die Spitze der Roten Armee im September in Jugoslawien mit Titos Partisanen-Armee vereinigte und im Norden die sowjetischen Truppen die Südkarpaten überwanden und gegen Ungarn vorstießen, wandte sich Marschall Tolbuchins Armeegruppe im Süden Rumäniens gegen Bulgarien.

In Sofia war die Regierung Ende August 1944 verwirrt. Sie nahm mit wachsender Sorge die rasche militärpolitische Entwicklung in Rumänien zur Kenntnis und versuchte, dem ihr von Norden her drohenden sowjetischen Aufmarsch mit diplomatischen Mitteln zu entgehen.

So ließ Sofia Ende August 1944 die (wenigen) deutschen Truppen im Lande internieren, kündigte alle Verträge mit Berlin und ließ die Anglo-Amerikaner wissen, daß Bulgarien zu einer bedingungslosen Kapitulation bereit sei.

Zur Verblüffung der Verantwortlichen in Sofia teilten ihnen jedoch die Westmächte mit, daß sie sich wegen einer Kapitulation an Moskau und nur an Moskau wenden sollten. Dies war jedoch insofern absurd, als sich die Sowjetunion und Bulgarien ja gar nicht im Kriegszustand befanden.

Die umgestaltete bulgarische Regierung, in der nun auch die demokratische Opposition Platz fand, proklamierte daraufhin am 2. September die Neutralität des Landes.

Als jedoch der sowjetische Aufmarsch an der Donau immer bedrohlicher wurde, erklärte Ministerpräsident Murawiew Deutschland am 8. September den Krieg. Man wollte dadurch eine sowjetische Besetzung Bulgariens ausparieren.

Am Abend desselben Tages jedoch überreichte in Moskau Volkskommissar Molotow dem bulgarischen Gesandten seinerseits die Kriegserklärung der UdSSR an Bulgarien. Damit ergab sich die tragische und groteske Situation, daß sich der kleine Balkanstaat einige Stunden lang mit allen kriegführenden Ländern Europas ini Kriegszustand befand.

Was dann geschah, ist schnell erzählt: In den Morgenstunden des 9. September kam es in Sofia zu einer Rebellion, die heute offiziell als Volksaufstand gewürdigt wird.

Mitglieder der radikalen Offiziers-Liga „Zweno" besetzten zusammen mit Kommunisten und anderen linksgerichteten Gruppierungen die wichtigsten Ministerien der Hauptstadt, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, und verhafteten die Regierung.

Die Bevölkerung von Sofia erfuhr erst am 9. September durch den Rundfunk, daß in der Nacht eine neue Regierung der „Vaterländischen Front" gebildet worden war. Von den 18 Ministerien erhielt die bulgarische KP vier, darunter das äußerst wichtige Innenministerium. Ministerpräsident wurde der „Zweno-Bündler" Oberst a. D. K. Georgieff.

Die einrückenden sowjetischen Truppen wurden von dieser Regierung als Verbündete gefeiert und durften sich im ganzen Land frei bewegen. In den nächsten Tagen und Wochen wurde Bulgariens Staatsleben umgestaltet nach den Wünschen der Sowjets, die sehr diplomatisch im Hintergrund blieben und die bulgarischen Kommunisten für sich arbeiten ließen.

Für Stalin war nur eines wichtig: Er wollte mit allen Mitteln verhindern, daß die Briten Bulgarien entweder selbst oder durch türkische Truppen besetzten. Auf Stalins Befehl hin sicherte deshalb Marschall Tolbuchin vor dem 25. September ganz Bulgarien militärisch — insbesondere aber dessen Südgrenze.

Während Anfang Oktober 1944 die Rote Armee auf breiter Front aus Siebenbürgen kommend das ungarische Kernland erreichte und nun die Offensive gegen die Honved-Truppen und die Deutsche Wehrmacht ergriff, strebten Reichsverweser Horthys Emissäre in Moskau in geheimen Verhandlungen einen Waffenstillstandsvertrag an.

Die Ungarn wollten dem Lande einen Krieg in seinen Grenzen ersparen, weil sie schon längst wußten, daß der „deutsche Krieg" verloren war. Die Verhandlungen in Moskau zeitigten bald ein Ergebnis.

Am 11. Oktober kam es zwischen dem königlichen Ungarn und der Sowjetunion zu einem „provisorischen" Waffenstillstandsvertrag, in dem sich Stalin bereit erklärte, Ungarn als zukünftigen Kriegspartner gegen Hitler anzuerkennen.

Die Sowjets stellten akzeptable Bedingungen, weil es für ihre

Streitmacht ein großer Vorteil war, wenn sie kampflos durch Ungarn marschieren und den Krieg erst wieder vor Wien fortsetzen konnten.

Vor diesem militärpolitischen Hintergrund traf Winston Churchill mit seinem Außenminister Anthony Eden am 9. Oktober 1944 in Moskau ein. Es war sein letzter und gleichzeitig längster Besuch in der sowjetischen Metropole, wo in den nächsten Tagen die Interessensphären der beiden Großmächte festgelegt wurden.

Diese Besprechungen sind als die Moskauer Konferenz 1944 in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs eingegangen und waren politisch beinahe ebenso bedeutungsvoll wie ein Jahr zuvor die Konferenz von Teheran.

Churchill und Stalin bzw. Eden und der sowjetische Außenminister Molotow diskutierten über die Zukunft Polens, über dessen Ostgrenze und die künftige Gesellschaftsordnung. Die langen Debatten führten zu keinem handfesten Ergebnis, und die Regelung dieser Fragen wurde auf die nächste Konferenz (Jalta) vertagt.

Dagegen bahnte sich eine Verständigung auf einem anderen Gebiet an. Winston Churchill schien „der Moment günstig zu sein", um — wie er in seinen Memoiren schrieb — „die Dinge im Balkanraum zu regeln". Er wandte sich an Stalin und schlug vor, eine Vereinbarung über diese Ek-ke Europas zu treffen:

„Ihre Armeen sind in Rumänien und Bulgarien. Wir haben dort Interessen ... Lassen Sie uns dort nicht in kleinlicher Weise gegeneinander arbeiten... Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie in Rumänien neunzig Prozent das Ubergewicht hätten und wir zu neunzig Prozent in Griechenland, während wir uns in Jugoslawien auf halb und halb einigen?"

Während das übersetzt wurde, notierte Churchill auf einem halben Blatt Papier seine Formel. Dann schob er den Zettel Stalin zu, der mittlerweile die Ubersetzung gehört hatte.

Churchill versuchte später, diese leichtsinnige Abmachung in seinen Memoiren dadurch zu erklären, daß es bei diesem „Geschäft" lediglich um eine momentane Kriegsmaßnahme gegangen sei. „Alle größeren Fragen stellten beide Seiten für die, wie wir damals hofften, auf den Sieg folgende Friedenskonferenz zurück."

Doch Churchill sah sofort auch ein, daß er dieses Abkommen mit Stalin in irgendeiner Weise abschwächen mußte. Er zeigte auf das mit Bleistift beschriebene Papier in der Mitte des Tisches und sagte zu Stalin.

„Könnte man es nicht für ziemlich frivol halten, wenn wir diese Fragen, die das Schicksal von Millionen Menschen berühren, in so nebensächlicher Form behandeln? Wir wollen den Zettel verbrennen!" Stalin erwiderte jedoch: „Nein, behalten Sie ihn!"

Und so kam dieses einmalige diplomatische „Schriftstück" mit den Konferenzpapieren nach London in das Staatsarchiv, wo es der Verfasser dieses Artikels in den späten siebziger Jahren vorfand.

Am 16. Oktober scheiterte Ad-miral Horthys Versuch, aus dem deutschen Kriegsbündnis auszuscheiden. Daraufhin forderte Staun eine Erhöhung seiner „Einfluß-Prozente" in Ungarn von 50 Prozent auf 75 Prozent.

Er begründete dieses Begehren damit, daß die Rote Armee nunmehr schwere Kämpfe in Ungarn durchzustehen hätte und dort viel „russisches Blut fließe". Churchill willigte ein, obwohl er bemerkte, daß Ungarn ein mitteleuropäisches Land sei und nicht als Balkanstaat betrachtet werden dürfe.

Im übrigen war die Moskauer Konferenz ein recht interessantes Bindeglied zwischen Teheran und Jalta. Am 18. Oktober regte Churchill eine Dreierkonferenz für das kommende Jahr an, um Deutschlands und Polens Zukunft zu diskutieren. Stalin willigte sofort ein.

Uber Deutschlands künftige Aufteilung wurde bisher in Moskau nur vage gesprochen. Stalin äußerte den Wunsch, nach dem Sieg der Alliierten mit Polen, der CSR und Ungarn einen Gürtel von unabhängigen, anti-nazistischen und pro-russischen Staaten zu bilden. Möglicherweise sollten die erstgenannten beiden Staaten sogar vereinigt werden.

Auch Österreichs Zukunft kam zur Sprache. Im Gegensatz zu früher war Stalin nun bereit, Wien als die Hauptstadt eines süddeutschen Staatenbundes (aus Österreich, Bayern, Württemberg und Baden bestehend) zu sehen.

Churchill gefiel die Idee, und er schlug vor, auch Ungarn in diesen Staatenbund zu integrieren. Aber Stalin winkte ab: Ungarn müßte unabhängig sein (er betrachtete Ungarn offensichtlich bereits als „Gürtel-Staat" mit einer pro-russischen Regierung an der Spitze).

So oder so: Churchill und Eden reisten zufrieden aus Moskau ab, in der Hoffnung, im kommenden Dreiertreffen (das dann im Februar 1945 in Jalta stattfand) alle noch ausstehenden Probleme und Streitigkeiten regeln zu können.

Uber Osteuropa wurde in Jalta schon nicht mehr viel verhandelt. Die Zukunft dieses Teils von Europa hatten Churchill und Stalin bereits im Oktober 1944 in Moskau geregelt.

Und Roosevelt wollte sich hier nicht einmischen: Er freute sich, mit „Uncle Joe" (Stalin) ein Problem weniger zu haben ...

Die Folgen dieser Moskauer Abmachung für Osteuropa mußten dann die Völker dieser Region tragen.

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