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Ein Haus, das hängt

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An der Adalbert-Stifter-Straße in Wiens zwanzigstem Gemeindebezirk nähert sich ein Bauwerk seiner Fertigstellung, das sehr wahrscheinlich die Meinungen der Wiener polarisieren wird wie nur wenige Bauten seit der Fertigstellung der StadthaUe in den fünfziger Jahren. Das neue Forschungs- und Verwaltungszentrum der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) wartet mit technischen Novitäten auf, die nicht einmal die UNO-City zu bieten hat: Es ist Österreichs erstes Hochhaus, das nicht steht, sondern hängt.

Grund dafür, daß diese erst seit kurzer Zeit bestehende und bislang nur vereinzelt angewendete Konstruktionsweise gewählt wurde, ist der verkehrsmäßig hervorragend gelegene, aber bautechnisch schwierige, weü nachgiebige Baugrund. Bei herkömmlicher Bauweise wäre eine aufwendige und kostpielige Pfahl-fundierung notwendig geworden. Die von Architekt Dipl.-Ing. Dr. Kurt Hlaweniczka gewählte Konstruktion ermöglicht die punktuelle Ableitung der gesamten Gebäudelast über zehn entsprechend tief fundamentierte Stahlbetontürme.

Diese tragen schwere Brückenkonstruktionen aus Stahlbeton, von denen sämtliche Bürostockwerke (im hohen Teil des Gebäudes 12) „herunterhängen“. Und zwar hängen sie an Stahlrohren mit 22 Zentimeter Außendurchmesser, die von außen sichtbar sind und zur kühnen, von Menschen mit konservativerem Kunstgeschmack vielleicht als einigermaßen provokant empfundenen Ästhetik des Bauwerkes erheblich beitragen. (Aus Sicherheitsgründen, und zwar um ein Schmelzen der Hängesäulen im Brandfalle auszuschließen, wurde eine Flüssigkeitszirkulation im Inneren dieser Rohre vorgesehen.)

Durch „ausgelassene Geschosse“ im unteren Bereich der Baukörper wird die Hängekonstruktion besonders betont. Manche Menschen mögen sich in ihrem Sicherheitsbedürfnis irritiert fühlen, wenn sie durch diese „Luftlöcher“ immer von neuem daran erinnert werden, daß hier 12 Bürogeschoße nicht wie gewohnt eines auf dem anderen ruhen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes in der Luft hängen. Diese Luftgeschosse, die, sozusagen als „Dachgärten im ersten Stock“, begrünt werden sollen, haben nicht nur technische Funktionen (Ausgleich von Setzungsbewegungen, Vermeidung von Luftstau im Luv und Sog im Lee des Gebäudes), sondern tragen auch wesentlich zum Gesamteindruck des Gebäudes bei, der nicht zuletzt durch die Vielfalt der Raumbildungen und Durchblicke zwischen den kreuzförmig angeordneten hohen und niedrigen Baukörpern bestimmt wird.

Für die Fassade wurde nach

Versuchen mit Reflexverglasungen in verschiedenen Farbtönungen — blau eloxiertes Glas gewählt. Die grünlich, bläulich oder bräunlich schillernden modernen Glasfassaden, die nur den Ausblick, nicht aber den Einblick gestatten, entfalten zwar fallweise einen starken, strengen ästhetischen Reiz, geben aber modernen Bürobauten auch einen abweisenden, isolierenden, gewissermaßen introvertierten Charakter, der überall, wo solche Fasaden dominieren, nicht gerade zur Wirtlichkeit unserer Stadtlandschaften und damit zur Vermenschlichung unserer Umwelt beiträgt. Ohne diese Gläser geht's aber heute nicht mehr, denn sie senken sehr wesentlich die Heizungs- bzw. Klimatisierungskosten und wurden damit zu einem für die Betriebskosten moderner Bürohochhäuser ausschlaggebenden Faktor.

Im gegebenen Fall steht zu hoffen, daß die vor jedem Stockwerk angeordneten Gitterroste (die als Sonnenbrecher und als Stege für die Fassadenreinigung dienen) die Strenge der Reflexverglasung mildern. Wesentlich für die ästhetische Wirkung des AUVA-Forschungs- und Verwaltungszentrums erscheint aber vor allem das Nebeneinander eines über 60 Meter hohen und mehrerer niedriger Baukörper und die auf diese Weise erreichte starke Gliederung eines Bauwerkes, das schon vor seiner Fertigstellung zu einem Fixpunkt einer an städtebaulichen Dominanten nicht gerade reichen Gegend wurde und mit dem Achitekt Dr. Hlaweniczka, der bisher vor allem mit noblen genossenschaftliehen Wohnsiedlungen auffiel und erst seit wenigen Jahren Bürogebäude und Fabriken plant (IPZ, Ge-nerali-Haus auf der Landstraße, Philips-Euro-Center usw.), sehr nachdrücklich in die Spitzengruppe der österreichischen Architekten eintrat.

Die Menge, Vielfalt und Kompliziertheit der technischen Anlagen, die im Forschungs- und Verwaltungszentrum der Allgemeinen Unfallversicherung unterzubringen waren, spiegelt deren vielfältige Aufgabenstellungen. Zu den traditionellen kamen mit dem seit 1. Jänner 1973 geltenden Arbeitnehmerschutzgesetz neue Kompetenzen auf dem Gebiet der Berufsschadenprophylaxe.

Das Herz des neuen Bauwerkes wird eine EDV-Anlage sein, die sowohl aus technischen wie aus Sicherheitserwägungen in besonders zentraler und geschützter Lage im Schnittpunkt der Baukörper untergebracht wird. Erstmals wird elektronische Datenverarbeitung zur Speicherung der Unfallkrankengeschichten eingesetzt — man verspricht sich eine wesentliche Beschleunigung aller Abwicklungen und vor allem des Kundendienstes. In der ersten Ausbauphase sind

60 Datenterminals vorgesehen, ihre Zahl kann in weiteren Ausbaustufen bis auf 280 gesteigert werden.

Das Haus als Maschine: das AUVA-Zentrum bedeutet auf dem Wege zu diesem einst von Corbusier proklamierten Ziel einen weiteren Schritt. Es wird nicht nur vollklimatisiert, sondern auch vollautomatisch überwacht. Eine vollelektronisch gesteuerte Aktenrohrpost mit sechs Linien und 23 Stationen stellt dem Vernehmen nach das Nonplusultra gegenwärtiger Entwicklung dar, eine zentrale Absauganlage (zum Staubsaugen, aber auch zum Absaugen von Wasser bei der Naßreinigung) soll den Aufwand für die Raumpflege erheblich senken.

Rund ein Drittel der gesamten Nutzfläche (Geschoßflächen über und unter Terrain: 45.480 Quadratmeter, umbauter Raum: 161.140 Kubikmeter) wird den Forschungsaufgaben der AUVA zur Verfügung stehen. Während die Hängegeschosse sämtliche Büroräume enthalten, sind Garagen (232 Pkw-Abstellplätze) Schulungsräume, Datenverarbeitung und Forschungseinrichtungen im stehenden Teil ebenerdig und unter Terrain untergebracht.

Unter den Forschungseinrichtungen wäre als repräsentatives Beispiel etwa die Lärmbekämpfungsstelle zu nennen, die schon heute zu den international angesehensten Forschungseinrichtungen auf diesem Gebiet zählt. Sie wird im neuen AUVA-Zentrum über einen der wenigen in Europa schalltoten Räume sowie über einen Schallraum verfügen. Von großer und steigender Wichtigkeit: die sicherheitstechnische Prüfstelle. In der österreichischen Staubbekämpfungsstelle wiederum arbeiten Wissenschaftler an der spezifischen Problematik aggressiver Staubarten.

Einrichtungen, die schon bisher hervorragende Leistungen erbrachten — aber unter oft sehr schwierigen äußeren Umständen. Wer die Verhältnisse in der Webergasse gekannt hat, zweifelt nicht an der Notwendigkeit dieses Neubaues, der alles andere als ein Prestigeprojekt ist.

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