6826351-1974_14_03.jpg
Digital In Arbeit

Ein Hausmittel gegen vielerlei

19451960198020002020

Streik war in der Vergangenheit die Verweigerung des vereinbarten Einsatzes „verkaufter Arbeitskraft“, um einen „höheren Preis“ oder andere, bessere Bedingungen zu erzielen. Der durch den Produktions- oder Leistungsausfall entstandene Verlust sollte den Arbeitgeber zur Erfüllung erhobener Forderungen veranlassen.Heute richten sich oft Streiks in ihrer Wirkung gegen Personen oder Personengruppen, die in gar keinem Verhältnis zu den Streikenden stehen. Streiks sind eine allgemeine, von vielen Bevölkerungsgruppen geübte Kampfmaßnahme geworden.

19451960198020002020

Streik war in der Vergangenheit die Verweigerung des vereinbarten Einsatzes „verkaufter Arbeitskraft“, um einen „höheren Preis“ oder andere, bessere Bedingungen zu erzielen. Der durch den Produktions- oder Leistungsausfall entstandene Verlust sollte den Arbeitgeber zur Erfüllung erhobener Forderungen veranlassen.Heute richten sich oft Streiks in ihrer Wirkung gegen Personen oder Personengruppen, die in gar keinem Verhältnis zu den Streikenden stehen. Streiks sind eine allgemeine, von vielen Bevölkerungsgruppen geübte Kampfmaßnahme geworden.

Werbung
Werbung
Werbung

In Industrieländern mit starkem Gewerkschaftseinfluß wird das Kampfmittel heute öfter von anderen Bevölkerungsgruppen eingesetzt als von den Arbeitnehmern seihst. Dabei wird oftmals verkannt, daß der Streik das letzte Druckmittel ist, wenn alle vorhergehenden Verhandlungen und Kampfmaßnahmen scheiterten, ebenso wird vielfach übersehen, daß die Anwendung, wenn sie von allgemeiner Wirkung sein soll, der Billigung oder zumindest nicht der Ablehnung der Öffentlichkeit bedarf. Insbesondere dann, wenn „Streik“ fälschlich für Boykottmaßnahmen gesetzt wird.

Was soll es, wenn eine Minderheit von Bauern die Milchversorgung größerer Gebiete blockiert oder wenn die Ärzte bei Auseinandersetzungen mit Krankenkassen, den Gemeinden, Ländern oder dem Staat als Spitalserhalter, den Kranken ärztliche Behandlung verweigern oder sie nur auf dringende Fälle beschränken?

Das Streikrecht selbst in Ehren, es muß unangetastet bleiben, aber was hat es für einen Sinn, wenn, wie es in England oder Italien geschehen ist, der Zugverkehr, Post oder Telephon länger — oder kurzfristig — lahmgelegt werden? Die Betroffenen sind die Staatsbürger, nicht der an sich anonyme-'Staat. >Wäien .die'-Folgen für Bahn- oder “Pöstvenvaltilng finanziell nicht empfindlicher, wenn man die Züge fahren ließe, ohne Fahrkarten zu verlangen oder die Post unfrankiert befördert würde? Um mit Beförderungsbestimmungen nicht in Widerspruch zu kommen, könnten entsprechende Teilstreiks geführt werden, die in anderer Form ohnedies heute in Italien oder England gang und gäbe sind. Wer sind die Betroffenen, wenn zum Beispiel wochenlang in London wegen Streiks die Haushalte kein Gas erhalten oder wie auch schon in der Bundesrepublik der Müll die Straßen verunreinigt, wenn durch Bummelstreiks Werktätige nicht an ihre Arbeitsplätze gelangen können, oder wie es in England geschehen ist, die Kranken nicht mehr in Krankenhäusern versorgt werden?

Eben in England haben sich, seit es Stufe um Stufe von seiner Weltmachtposition herabsteigen mußte, zum Unterschied von Mitteleuropa die Klassengegensätze schärfer profiliert. Einer dünnen Oberschicht steht eine breite Front abhängiger Lohnempfänger gegenüber. Die gewaltigen Erträge aus den Kolonien fielen weg. Adel und Großbürgertum versuchen ihre Privilegien zu halten, die Arbeiterschaft steht zu ihren traditionellen Kampfmethoden. Die Auseinandersetzungen gehen in verfassungsmäßigen Formen vor sieh, aber sie werden mit aller Härte geführt. Sie sind nicht im Sinne umstürzlerischer Doktrin revolutionär, aber sie werden es schließlich in ihrem Ergebnis sein, indem sie Englands Wirtsc'haftsstiruktur grundlegend verändern.

Duroh den Eintritt Englands in die EWG und die dadurch gegebene Notwendigkeit der Anpassung an die kontinentalen Verhältnisse hat die Lage Englands noch an Brisanz gewonnen. Einige Zahlen • mögen sie erläutern: In England stiegen die Industriegewinne im Jahre 1973 gegenüber dem Vorjahr um rund 40 Prozent, die Dividendenzahlungen erhöhten sich 1973 auf 13,8 Prozent gegenüber 8,8 Prozent in den ersten neun Monaten des Jahres 1972. Die „Financial Times“ schätzte die Gewinne der englischen Unternehmen 1973 um 24,3 Prozent höher als die des Vorjahres. Den Arbeitern genehmigte die Regierung Heath nur eine Lohnerhöhung von 7 Prozent.

Aber abgesehen von der besonderen Situation in England lassen sich die Fragen, wer von Streiks in Mitleidenschaft gezogen ist, fortsetzen. Wer sind die Betroffenen, wenn die Fluggäste großen Strapazen und größten Gefahren ausgesetzt sind, weil die Fluglotsen — wie in Frankreich geschehen — streiken oder wie in der Bundesrepublik passive Resistenz üben? Wenn die Arbeitnehmer der Brotfabriken länger streiken, während die Eigentümer oder Aktionäre kaum Nahrungssorgen haben, aber den Arbeiterfamilien das Brot fehlt?

Es ergibt sich daher die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, wenn die Gewerkschaften ihre Streiktaktik überprüfen würden, um neue Methoden zu finden, die wirklich jene treffen, an die sie ihre Forderungen richten (abgesehen davon, daß es vernünftige Forderungen sein müssen) und die nicht die eigenen Arbeitskameraden schwer und andauernd in Mitleidenschaft ziehen. Es ist bequem, weiter so au verfahren wie vor einem halben Jahrhundert und länger vorher, es wird dabei aber übersehen, daß ein Streik damals tatsächlich ein Risiko war, also ein organisierter Streik daher nur besonnen und selten angewandt wurde.

Heute treffen falsch angewandte Streikmethoden die Produktionskraft großer Betriebe oder eines ganzen Landes, bringen persönliche Erschwernisse für Hunderttausende Menschen und richten sich manchmal in letzter Konsequenz gegen die Interessen der Arbeiterschaft selbst. Um eines oft kleinen materiellen Vorteiles willen stellt man sich in Gegensatz zu breiten Volksschicl ten, treibt Schwankende ins gegm rische Lager und gefährdet — ui bei marxistischer Terminologie 2 bleiben — „die Schlagkraft Klasse“.

Die ganze Problematik d< heutigen Situation, in der ein risikc reiches Kampfmittel der Arbeitei schaff aus der Vergangenheit als al gemeine und ziemlich risikofre Kampfmaßnahme in die Gegenwa übernommen wurde, läßt sich ai beschränktem Raum nicht behai dein. Daß aber auf anderem, praj matischem Weg mehr erreicht we: den kann, beweist die Lage d< Arbeitnehmer in der Schweiz, in di Bundesrepublik, in Skandinavie und in Österreich. Streiks sind dort Ausnahmeerscheinungen, wobei zugegebenermaßen die politische Lage mit ins Gewicht fällt. Aber Gewerkschaftspolitik wie politische Erfolge stehen in Wechselwirkung. Es wäre daher nicht von Vorteil, wenn unter dem Druck linker Kräfte die deutschen Gewerkschaften einen schärferen Kurs einschlagen würden.

Sicherlich bedarf ein Wandel der gewerkschaftlichen Strategie entsprechender ideologischer Untermauerung, um Resonanz zu finden. Den Gewerkschaften wird ohnehin heute vorgeworfen, daß ihnen durch bürokratische „Einmauerung“ oft der Blick für die eigentlichen Sorgen und Nöte der Arbeitnehmer verloren geht. Gerade eine aktive Politik dm • Hinblick auf den Arbeitsplatz wäre ; geeignet, die Arbeitnehmer erkennen zu lassen, daß die Gewerkschaften umfassend die elementaren Interessen der Berufstätigen im Betrieb wahrnehmen. Neben die ' bisherige Lohnpolitik muß die kon-1 sequente Politik zur Humanisierung der Arbeitswelt treten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung