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Digital In Arbeit

Ein heilsamer Freizeitschock

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Jetzt zieht (oder steht) sie wieder, die Urlauberkarawane. Hin zu den Pisten. Und heuer mehr denn je hin zur südlichen Sonne.

Wir machen Urlaub. Vielleicht machen wir sogar schon bald noch länger Urlaub. Zumindest schwebt Sozialminister Alfred Daliinger bis 1983 eine weitere Arbeitszeitverkürzung, eine fünfte Urlaubswoche für alle vor.

Und das wird nicht die letzte Arbeitszeitverkürzung sein. So rechnet etwa der Schweizer Ökonom Emil Küng, daß wir in zwanzig Jahren mit zwölf Urlaubswochen im Jahr wöchentlich 30 Stunden an nur vier Tagen arbeiten werden. Sind wir auf dem Weg in die Urlaubsgesellschaft?

Darüber wurden von Journalisten schon viele Artikel geschrieben. Einer, Thomas Chorherr, Chefredakteur der „Presse", hat darüber ein Buch geschrieben, eine packende und „kritische Reportage" auf 339 Seiten. Sein Titel: „Der Freizeitschock,."

Das Buch, wünscht sich der Autor, soll zum Nachdenken anregen. Das ist gelungen: Der Freizeitmensch des Jahres 1980 kann nur nachdenklich verden, wenn er sich in dem Spiegel wiedererkennt, den Chorherr ihm vorhält. Und das ist nicht nur anregend, sondern aufregend.

Wir haben auch reichlich Grund, uns aufzuregen: Stoßstange an Stoßstange fahren wir „automobil" zur Arbeit, ins Wochenende, in den Urlaub. Retour ebenso.

Den Weg, den der Treck der Urlauber nimmt, säumen Verkehrstote, Freizeitkrüppel (rund 490.000 Freizeitunfälle im Jahr gegenüber etwa 230.000 Arbeitsunfällen) und Freizeitmüll. Chorherr: „Die Trampelpfade der Erholung werden zu Lehrpfaden menschlicher Unzulänglichkeit", die Alpen werden zu einer einzigen Mülldeponie, das Mittelmeer wird zur „Kloake Europas".

Es wird noch schlimmer werden: „Dieser Massentourismus", soder Autor, „steckt noch immer in den Kinderschuhen."

Die Stadtflüchtlinge ziehen aufs Land: in Zweitwohnsitze. Das ist die „Urbanisierung der Wiese", die Zersie-delung der Landschaft, die im Alptraum gipfelt: „ganz Europa eine einzige Vorstadt".

Es ist die Gleichzeitigkeit, die uns die Freizeit so vermiest. Aber nicht nur die beim Urlauben, auch beim Arbeiten ist sie problematisch: Wenn die Geschäfte offen haben, arbeiten die Kunden; und wenn die Kunden nicht mehr arbeiten, sondern einkaufen könnten, sperren die Geschäfte zu.

Und nicht nur die. Wer etwa in Wien an einem Sonntagnachmittag mit seiner Familie das Museum für angewandte Kunst besuchen will, kann gleich zu Hause bleiben: ab 13 Uhr keine Kultur, weil geschlossen.

Diese Gleichzeitigkeit einerseits sowie Willenlosigkeit der Menschen, mit der sie sich Freizeitzwängen (auch Hobbies könnten bald zum Zwang werden) und Ritualen unterwerfen: das ist für Chorherr der Freizeitschock.

Wie ihn überwinden, abwenden?

Der Autor versucht nicht nur die Probleme darzustellen, er verzichtet auch nicht darauf, nach Antworten zu suchen. Er hat dabei viel zusammengetragen: Realistisches und Utopisches.

Natürlich verzichtet Chorherr auch nicht auf die Vision, daß die Schule einmal via elektronische Medien besucht werden kann („Die Abschaffung der Schule ist nur eine Frage der Zeit"), doch klingt derartige Zukunftsmusik gar grauslich.

Sonst dürfte man ja auch nichts gegen den Bildschirm als Kindermädchen einwenden, wie das Chorherr zu Recht tut. Und der Computer, der als Partner Einzug ins Kinderzimmer gehalten hat, ist ebenso eine Fehlentwicklung: Technik ersetzt die Eltern nicht.

Aber so sind wir eben: Passiv vor dem Fernsehkastl sitzen, ist unsere Frei-zeit-„Aktivität" Nummer eins. Dafür liest der Österreicher im Durchschnitt 0,9 Bücher im Jahr.

Jedenfalls werden wir mit all den Problemen nicht fertig werden, wenn wir den Kalender reformieren, Wochenende und Sonntage wie Feiertage abschaffen. Vielleicht läßt sich aber, das scheint auch Chorherr realistisch, mit mehr Gleitzeit und mehr Teilzeitbeschäftigung sowie flexibleren Ferienterminen etwas ändern.

Der wirkliche Schlüssel liegt anderswo: Wir müssen aktiv werden, zum Familien(er)leben zurückfinden. Und wir müssen die Gegensätze zwischen Arbeit und Freizeit abbauen. „Das können wir", ist der Autor überzeugt, „wenn wir die Arbeit vermenschlichen, die Arbeitsplätze humanisieren."

Wie? Ganz zu Beginn des Buches (Seite 39) steht das, was wichtiger wäre als eine weitere Urlaubsverlängerung: mehrere kleine Pausen. Das wäre eine ebenso sinnvolle wie gesunde Arbeitszeitverkürzung. Nur traut sich kein Gewerkschafter, das als Arbeitszeitverkürzung zu fordern.

Vielleicht wäre es aber auch ein ganz heilsamer Freizeitschock, an jene zu denken, für die Freizeit ein Fremdwort ist: an die Nebenerwerbsbäuerin etwa, die ohne Urlaub oft mehr als 60 Stunden wöchentlich arbeitet. Von denen liest man auch bei Chorherr nichts.

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