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Ein Indikationsmodell—am Rand der Fristenlösung

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Der neue Text für eine Reform des Abtreibungsparagraphen 218 im deutschen Strafgesetzbuch liegt, nachdem die zuvor angestrebte Fristenlösung am Verfassungsurteil gescheitert war, nun auf den Länder-Parlaments-Tischen des Bundesrates. Der Streit um das ungeborene Leben geht weiter. Denn die mehrheitlich von der Union getragene Länderkammer legte nun dem parlamentarischen Vermittlungsausschuß den im Bundestag durchgefallenen Reformentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor. Die Opposition verlangt neben einer präziseren Indikationenbeschreibung und weitaus genaueren Feststellungsverfahren auch erhebliche Verbesserungen der Schwangerenberatung. Die Abtreibungsgesetzgebung dürfte zur wichtigsten Frage im deutschen Vorwahlkampf werden.

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Der neue Text für eine Reform des Abtreibungsparagraphen 218 im deutschen Strafgesetzbuch liegt, nachdem die zuvor angestrebte Fristenlösung am Verfassungsurteil gescheitert war, nun auf den Länder-Parlaments-Tischen des Bundesrates. Der Streit um das ungeborene Leben geht weiter. Denn die mehrheitlich von der Union getragene Länderkammer legte nun dem parlamentarischen Vermittlungsausschuß den im Bundestag durchgefallenen Reformentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor. Die Opposition verlangt neben einer präziseren Indikationenbeschreibung und weitaus genaueren Feststellungsverfahren auch erhebliche Verbesserungen der Schwangerenberatung. Die Abtreibungsgesetzgebung dürfte zur wichtigsten Frage im deutschen Vorwahlkampf werden.

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Mit der „weitgefaßten Indikationsregelung“ hatte die SPD/FDP-Koalition am 12. Februar vorerst im Deutschen Bundestag jene Neufassung des Abtreibungsparagraphen durchgesetzt, die in ihren Augen die „zweitbeste Lösung“ nach der Fristenregelung darstellt. Das unter dem umfassenden Titel „medizinisch sozial“ firmierende Indikationsmodell sieht Straffreiheit grundsätzlich dann vor, wenn die Abtreibung bis zur Einnistung des Eies, also etwa innerhalb der ersten 13 Schwangerschaftstage, vorgenommen wird. Nicht strafbar ist ein Schwanger-schaftsabbruch auch innerhalb der ersten 22 Wochen nach der Empfängnis, sofern sich eine schwere Schädigung des Kindes vermuten läßt. Die Frauen selbst sollen allerdings sogar straffrei bleiben, wenn nach Erkenntnis ihres Arztes keine formal zulässige Abtreibungs-Indikation vorliegt und die Schwangere dennoch ihre Leibesfrucht töten läßt — vorausgesetzt, sie tut dies während der ersten 22 Lebenswochen des ungeborenen Kindes und hat sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einem anderen Arzt über Hilfsmöglichkeiten für Mutter und Kind beraten lassen. Doch auch diese höchst dürftig ausgestattete zwangsbewährte Norm wird noch relativiert: Wenn sich nämlich die abtreibungswillige Frau auch noch den gesetzlich vorgeschriebenen Weg ersparen will, kann sie „in besonderer Bedrängnis“ straffrei bleiben. Kommt es also zum wahrscheinlich seltenen Fall einer strafrechtlichen Verfolgung, ist das Herausarbeiten der „Bedrängnis“ Gegenstand rechtsanwaltlicher Künste. Damit eröffnet -sich eine neue Variante des von der Koalition so gescholtenen Gegensatzes zwischen arm und reich: Einschlägig spezialisierte Staranwälte können dann jenes Geld kassieren, das man angeblich den Frauen ersparen wollte, die bisher zu Abtreibungen ins Ausland reisten.

Straffreiheit soll es überdies geben, wenn die Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung zurückzuführen ist. Dann nämlich betrachtet die Regierung das Austragen des Kindes in jedem Fall als unzumutbar und der Abbruch darf innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis erfolgen. Damit lehnt sich die Vorlage eng an die bereits in Frankreich erlaubte „ethische“ bzw. „kriminologische“ Indikation an. Dem Gesetz zufolge soll auch die seelische Gesundheit der Frau mitberücksichtigt werden, wie weitläufig immer man diese unter den Zuständigkeitsbereich der Psychotherapie subsumieren mag. Einen Abbruch läßt das Gesetz außerdem dann straffrei, wenn die Frau mitten im Wohlfahrtsstaat in eine schwerwiegende Notlage gerät (wie diese wohl zu definieren sein wird?), — die eine Geburt des Kindes als unzumutbar erscheinen läßt. Auch in diesem Fall ist eine legitime Abtreibungsfrist von 12 Wochen vorgesehen.

Der tiefere Grund des politischen Engagements von SPD und FDP zuerst für die Fristenlösung und dann wenigstens für das erweiterte Indikationsmodell lag freilich in wahl-taktischen Überlegungen: Eine Analyse des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung aus dem Jahre 1973 hatte ergeben, daß rund 80 Prozent der Bürger eine Liberalisierung des Paragraphen 218 wünschten. Von den Reform-Befürwortern trat zwar

eine etwas größere Gruppe für eine Indikationsregelung ein, doch je jünger die Befragten waren, desto eher sprachen sie sich für die Fristenlösung aus: In der Altersklasse zwischen 16 und 29 Jahren war es mit 56 Prozent eben ein ganz erheblicher Teil jener Wähler, auf die man in der SPD/FDP hoffte.

Das französische Beispiel

Von dem Reformgedanken, durch individuelle Beratung werdender Mütter, wie die deutschen Verfassungsrichter im Vorjahr dies verlangten, die Ungeborenen künftig durch Sozialmaßnahmen besser zu schützen, ist kaum mehr übrig geblieben, als ein bloßer Formalakt. Die ungewollte Schwangerschaft wird kraft Gesetz zur Krankheit erkläijf, Abtreibungen sollen vom Beitragsaufkommen der Krankenversicherungen finanziert werden. Es stellt, sich die Frage, ob das Indikationsmodell der Regierungsparteien nicht vielmehr eine modifizierte, manipulierte, umfunktionierte Fristenlösung bedeutet. So kann es nicht verwundern, daß die Ärztekammer, auf deren Stellungnahme beim 73. Deutschen Ärztetag sich die Regierungsparteien so eifrig berufen, ihr Votum als völlig fehlinterpretiert bezeichnet. Denn gegenüber der vom Ärztetag definierten sozial-medizinischen Indikation unterstellen SPD und FDP faktisch bei jeder sozialen Notlage automatisch eine gesundheitliche Gefährdung. Besonders kritisieren die Mediziner, daß die heute noch vorgeschriebenen Gutachterstellen zur Klärung einer Indikation nun durch die weitgehend formlose, schriftliche Indikationsbescheinigung eines beliebigen Arztes ersetzt werden sollen, i

Die Opposition im Deutschen Bundestag, die ebenso wie die Regierungsparteien auf die Entschließung des Ärztetages von 1973 pocht, befürchtet, daß bei Inkrafttreten des neuen Gesetzes bald auch in der Bundesrepublik das große Geschäft mit Abtreibungskliniken entsteht. Uni dem einen Riegel vorzuschieben, interessiert man sich in der Union für jenen Passus in dem seit 18. Jänner des Vorjahres rechtskräftigen Gesetz in Frankreich, wonach afatrei-bungsberechtigte Kliniken nicht mehr als 25 Prozent ihrer gesamten Tätigkeit für derartige Eingriffe aufwenden dürfen. Die leichtfertige Indikationsannahme, und den Schwangerschaftsabbruch außerhalb eines Krankenhauses will die CDU/CSU

unter Strafandrohung stellen. Letz teres gilt nach der Bundestagsfassung nur als Ordnungswidrigkeit, wohingegen beispielsweise sogar im, französischen 10-Wochen-Fristenre-gelungs-Gesetz der Eingriff ausschließlich in zugelassenen Spitälern oder autorisierten Privatkliniken durchgeführt werden darf. Darüber hinaus ist die Gefahr des Ge-wissensnotstaindes für nicht abtreibungswillige deutsche Ärzte und Krankenhauspersonal trotz anderslautender Beteuerungen der SPD noch nicht gebannt. Während die Union die ausdrückliche gesetzliche Garantie fordert, daß es mit Ausnahme von Notfällen keinerlei Pflicht zum Mitwirken an Schwangerschaftsabbrüchen oder auch nur zu deren Zulassung geben darf, wie dies

übrigens auch in der französischen Rechtssprechung verankert ist, tönte es von FDP-Seite im Bundestag erschreckend dissonanter: Der freide-mokratisohe Abgeordnete Andreas von Schöler erging sich in der Drohung, es wäre „ein schwerer Verstoß gegen unser Demokratie- und Staatsverständnis“, wenn man versuchen sollte, „unter Mißachtung der Parlamentsentscheidung weiter die Durchführung des Gesetzes zu verhindern.“

Kirche: Schwere Gefahren

Ein besonders gespanntes Verhältnis schafft das neue Gesetz zwischen den beiden Regierungsparteien und der katholischen Kirche. Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe in Bonn sprach von einer schweren Gefahr für das sittliche Bewußtsein der Bevölkerung. Ob die von SPD und FDP vor den Kopf gestoßenen Bischöfe beim Endkampf um den neuen Bundestag durch „Wahlhir-

tenbriefe“ von den Kanzeln herab ihren Gläubigen die Union anpreisen werden, läßt sich, obwohl von der Koalition erwartet, doch eher bezweifeln, zumal die katholische Kirche auf den weltweit virulent gewordenen Abtreibungshader bislang international einheitlich reagiert und beispielsweise die amerikanischen Bischöfe bereits angekündigt haben, sie würden trotz der Sechsmonats-Fristenregelung in den USA keine Wahlempfehlung für einen bestimmten Präsidentschaftskandidaten abgeben.

Immerhin gilt Gerald Fords republikanischer Konkurrent bei der Bewerbung um die Kandidatur für das Präsidentenamt, der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan, als scharfer Abtreibungsgegner und Be-

über das „französische Modell“?

fürworter einer Verfassungsänderung, die Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich für illegal erklären soll.

Die Unterschiede zwischen dem noch umkämpften deutschen Abtreibungsparagraphen 218 StgB und seinem im benachbarten Frankreich bereits rechtsgültigen Pendant, das die Nationalversammlung als Paragraph 317 im Jänner vorigen Jahres mit 277 gegen 192 Stimmen annahm, sind nicht allzu groß. Eine bessere Ausgestaltung der französischen Bemühungen um die Nöte der Schwangeren fällt dennoch ins Auge. Abtreibungswillige Frauen müssen vor dem Eingriff medizinisch-psychologisch eingehend beraten und dabei deutlich auf die Risiken hingewiesen werden, die mit dem Schwangerschaftsabbruch verbunden sind. Bei Minderjährigen ist das Einverständnis eines Elternteiles erforderlich. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, bleibt die Abtreibung bis zur zehnten Schwangerschaftswoche straffrei, danach ist sie nur bei Indikationsvorlagen ähnlich dem deutschen SPD/FPD-Modell erlaubt. Der französische Gesetzestext hebt die Bestimmung des Strafgesetzbuches vom Jahre 1920 auf, die jeden Schwangerschaftsabbruch, die medizinische Indikation ausgenommen, unter Strafandrohung stellte. Die Reform wurde allerdings zunächst nur probeweise für fünf Jahre eingeführt, um danach die Entwicklung im ethischen Verhalten der Bevölkerung neu zu überprüfen: Eine in deutschen Augen staatspolitisch weise Entscheidung. Denn ähnlich wie im Blick auf die in Deutschland befürchtete Ver-wässerung menschlicher Grundwerte glauben Ärzte, Sozialarbeiter und Kirche doch, daß durch das Gesetz immerhin noch einiges später korrigierbar wäre. Das Problem der heimlichen Abtreibungen (so die Mehrheit jener deutschen Experten, die von wahltaktischen i Erwägungen frei

sind) wird freilich hier wie in Frankreich nicht einfach durch ein Abschaffen rechtlicher Schranken zu lösen sein, deren moralische und menschheitsbejahende Wurzeln kein sich noch so fortschrittlich gebärdender „Zeitgeist“ ersetzen kann.

Die deutschen Abtreibungsgegner rechnen sich unterdessen noch eine gewisse, freilich rein strategische Chance aus, den Paragraphen 218 StgB in seiner jetzigen Fassung zu Fall zu bringen: Im Bundesrat, in dem die unionsregierten Länder nicht nur an Stimmen überlegen sind, sondern seit dem jüngsten Regierungswechsel in Niedersachsen nun auch die Geschäftsordnungsmehrheit haben, können CDU und CSU den Zeitpunkt der neuerlichen Gesetzesbehandlung festlegen, nach-

Photos: Archiv

dem der parlamentarische Vermittlungsausschuß seine Bemühungen beendet hat. Würde die Länderkammer dem verfassungsmäßig nicht zustimmungspflichtigen Reformentwurf noch in dieser Legislaturperiode eine Absage erteilen, gälte dieses Votum als Einspruch, der vom Bundestag mit der absoluten SPD/FDP-Mehrheit zurückgewiesen , werden könnte. Damit träte das Gesetz in Kraft. Sollte der Bundesrat aber seine weitere Befassung mit dem Paragraphen 218 StgB bis nach.der Bundestagswahl verschieben, dann würde die Wählerschaft auch indirekt über die Frage der Abtreibung in der Wahlzelle mitentscheiden.

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