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Ein Kind braucht viele Bücher

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In einer Gesellschaft, die, individuell ebenso wie kollektiv, immer mehr für ihre Kinder tut, findet man auch im Kinderzimmer immer öfter eine richtige kleine Bibliothek. Gelegentlich ist sie größer als die des Herrn Papa. Und sehr oft nicht so zufällig zusammengeschenkt, sondern sorgfältig ausgewählt. Das ist auch richtig so. Erwachsene blättern Bücher, die sie nicht interessieren, lustlos durch oder vergessen sie überhaupt im Regal. Kindern hingegen fehlen noch alle Voraussetzungen für eine bewußte, gezielte Auswahl ihrer Lektüre. Und jedes Buch, das sie lesen, beeinflußt sie. Weshalb Bücher für Kinder viel sorgfältiger auagewählt werden sollten als das obligate Weihnachtsbuch für Onkel und Tanten.

Wie jedes Jahr, können wir nur eine kleine Auswahl bieten. Prächtige Kinderbücher mögen fehlen. Doch alles, was wir hier empfehlen, wurde aus der gewaltigen Masse der Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse sorgfältig ausgewählt. Wobei zu sagen wäre: Die Zeit, in der sich die Geister am „linken Kinderbuch“ schieden, sind abgeklungen. Verlage, die noch vor zwei Jahren die Revolution ins Kinderzimmer zu tragen versuchten, sind zum gemeinsamen Nenner dessen zurückgekehrt, worauf sich vernünftige und leidlich fortschrittlich denkende Eltern aller politischen Couleurs einigen können.

Lang erwartet: „Warten, bis der Frieden kommt“ von Judith Kerr. Die Fortsetzung von „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Ein unbedingtes Muß für die Kinder jedes demokratisch denkenden Menschen, denn so diskret, so überzeugend und für Kinder begreiflich wurde Zeitgeschichte dem Nachwuchs noch nie geboten. Der Otto Maier Verlag Ravensburg deklariert das Buch (S 249,—, DM 17,80) fairerweise als „Jugendbuch“ — aber man kann es ruhigen Gewissens auch schon für aufgeweckte Zwölfjährige empfehlen.

Auch für die Kleineren und Kleinen gibt es schon die verschiedensten Bücher, und wer „das richtige Buch“ für ein bestimmtes Kind sucht, geht zwangsläufig an der Tatsache vorbei, daß jedes einzelne Kind vielfältige, differenzierte Lese- bzw. Vorlesebedürfnisse hat. Der Österreicher Ernst Jandl zum Beispiel, der manche Erwachsene mit Lautgedichten auf das Erschröcklichste schockieret, erzählt Kindern die entzückendsten Geschichten, noch dazu in Reimen. Das Buch „Alle freut, was alle freut“ im Verlag Gertraud Middelhauve (60 Selten, DM 20,—) kam auf sehr besondere Weise zustande. Der von Erich Kästner so geschätzte Walter Trier, der „Emil und die Detektive“ illustrierte, zeichnete in der Emigration ein Bilderbuch „Die Spielzeugstadt“. Der Text ist verschollen. Ernst Jandl schrieb daher einen neuen, und dabei einen Text, der wohl jedem Jahrgang (bis hinauf zum vorlesenden Erwachsenen) spezifische Feinheiten enthüllt. Auch unsere Zeit bringt Kinderbücher hervor, über die sich unsere Kinder auch noch freuen werden, wenn sie sie in einigen Jahrzehnten auf dem Dachboden oder im Keller wiederfinden. Hier, bitte sehr, wäre so eines (siehe Bild über dem Titel!).

Doch wäre es ein Blödsinn, nun erwähntes Buch für stille und introvertierte Kinder, hingegen „Patatrac“ von Jean Jacques Loup (Verlag Sauerländer) für extrovertierte Wildfänge zu empfehlen. „Patatrac“ ist ein völlig textloses Bumms-klatsch-batsch-bäng—boing-quietsch-krach-au-Buch, eine Kette von ebenso liebevoll wie detailreich gezeichneten Katastrophen, vom Kuddelmuddel kollidierender Luftballons über die gar entsetzliche Flucht der Menschen vor den Ameisen bis zum Kuddelmuddel kollidierender Weltraumfahrer.

Sehr entzückend erzählt und illustriert die Geschichte „Wie der Hund Putzi seinem Herrchen in den Hintern biß“ (obwohl man sich ernsthaft fragt, was der Dativ dabei soll) von Rüdiger Stoye (Ravensburger, DM 16,80). Sehr, sehr liebevoll gezeichnet von Klaus Ensikat, Ost-Berlin, zu einem Gedicht von Peter Hacks: „Die Sonne“, ein in CSSR und DDR preisgekröntes, schönes Buch, in dessen Bildern man Spazierengehen kann (Lizenzausgabe: Ravensburger, DM 14,80).

Gehen wir zu den stärker themenbezogenen Büchern und Sachbüchern über. „Unsere Tiere von der Ahornfarm“, von Alice und Martin Proversen, ursprünglich in den USA erschienen, ist eigentlich noch eine Geschichte, in der kleinere und größere Kinder eine Menge über das Landleben (aus ihrer Sicht, nicht aus der des Farmers!) erfahren (DM 19,80), „Rund ums Rad“ von Ali Mitgutsch (DM 16,80, beide Ravensburger) ist bereits ein richtiges Sachbuch über die Geschichte des Verkehrs.

Wer Kinder hat, die Reiten lernen oder vielleicht einmal lernen sollen — im Eilermann-Verlag gibt es einen „Fröhlichen Reitkurs für Kinder“ von Dorothy Henderson Pinch, übersetz* von Eva Podhajsky, der Witwe des verstorbenen langjährigen Leiters der Wiener Hofreitschule. Ein Buch, das auf sehr unaufffällige und ansprechende Weise einen sehr neuen Weg geht: es ermöglicht Kindern aller Lesealter, also etwa ab sieben, sich alles, was sie über das Pferd wissen müssen, und die gesamte Grundtheorie des Reitens selbständig zu erlesen (DM 13,—). Man kann sich gut vorstellen, daß auf ein solches Buch viele Eltern gewartet haben. Es ist in der Ich-Form geschrieben: Das Pferd selbst erzählt, wie es behandelt sein möchte. Und was man nicht tun soll, wenn man nicht gebissen, getreten oder abgeworfen werden will. (Siehe nebenstehende Illustrationsprobe.) Aus demselben Verlag stammt „Die quietschvergnügte Straßenbahn“ (DM 12,—).

Ravensburger forciert photographisch reichillustrierte Sachbücher für Kinder. In der Reihe dieser „Ichund-die-Welt“-Photobilderbücher erschienen (jeweils DM 10,80), von Becker/Niggemeyer), ein Band „Ich kann schon schwimmen“, vor allem aber das außerordentlich wichtige Büchlein „Ich bin doch auch wie ihr“. Ein Buch für jedes Kind, das in Kindergarten oder Schule, auf dem Spielplatz oder sonstwo Kontakt mit körperbehinderten Alterskollegen hat. Hier wird ganz unsentimental und ganz ohne erhobenen Zeigefinger Kindern die Welt behinderter Kinder erklärt: blinder, gelähmter, in ihrer Entwicklung zurückgebliebener Kinder. Und das erscheint uns sehr wichtig.

Aktiver Musikunterricht für Kinder wird wieder modern. Im Diogenes-Verlag erschien daher genau zur richtigen Zeit „Das große Liederbuch“ — reich illustriert von Tomi Ungerer und geeignet, Kinder zu Bibliophilen zu machen (denn bibliophil wird man in der Kindheit oder gar nicht, egal, wie die Bücher aussehen, denn man schont nicht alles, was man liebt). Über 200 der schönsten deutschen Volks- und Kinderlieder wurden hier nicht einfach gesammelt (von Anne Diekmann und Willi Göhl), sondern vor allem nach den Kompositionen (zum Teil von Bach, Mozart, Schubert und Brahms) in für mehrere Instrumente geeignete Noten gebracht. Ungerer malte eine Fülle von Vignetten und ganzseitigen Illustrationen, deren außerordentlich guter Farbdruck selbst im Unmusikalischen den Wunsch erweckt, dieses Buch zu besitzen. Es ist nicht nur ein Liederbuch. Es ist außerdem ein unwillkürlich kunsterziehendes Buch.

Es gibt Bücher für alle Generationen. Bücher für Kinder, die Erwachsenen Freude machen, Erwachsenenbücher, die man Kindern in die Hand drücken kann. Im Verlag Werner Dausien, Hanau, erschien ein solches Buch: „Leben in der Urzeit“, die deutsche Lizenzausgabe (DM 29,—) eines vor zwei Jahren in der Tschechoslowakei ersterschienenen Werkes von Z. V. Spinar (Text) und Zdenek Burian (Illustrationen). Vom eigentlichen, wissenschaftlichen Textteil werden Kinder nichts haben. Aber der sehr viel umfangreichere Illustrationsteil könnte auf manchen jungen Menschen prägend wirken wie einst die Abbildung des brennenden Troja auf den achtjährigen Schliemann. Urzeitliche Lebewesen faszinieren ja bekanntlich jede Generation von neuem. Hier aber werden nicht die geringsten Abstriche von der Wissenschaftlichkeit zugunsten einer falschen Kindlichkeit gemacht. Wer davon überzeugt ist, daß Kinder nur Kinderbücher lesen sollen, wird Bedenken haben, wer aber, mit sechs Jahren, parallel zum Schulunterricht einen zweiten Bildungsweg durch heimliches Stöbern in einem vielbändigen Lexikon in Angriff genommen hat, pfeift auf Altersempfehlungen. Das Buch „Leben in der Urzeit“ ist meiner Ansicht nach hervorragend geeignet, den Blick des Kindes für das Veränderliche im scheinbar Unveränderlichen zu schulen. Und es wäre ein hervorragender Anhaltspunkt für die Antworten auf viele Fragen, die Kinder heute, und nicht erst heute, stellen. (Außerdem ein Doping im Heimatkundeunterricht, wo ja schon von den Knochen der Saurier die Rede ist!)

Eine Klasse für sich bilden Jahr für Jahr die Neuerscheinungen aus dem Beltz-Verlag. Es sind inhaltlich die modernsten, kühnsten Kinde&-bücher, die heute in deutscher Sprache gedruckt werden, aber sie sind weder „experimentell“ noch „revoluzzerisch“, sondern erziehungstheoretisch durchdacht. Richtig zu schätzen weiß man sie erst, wenn die eigenen Kinder „wieder so ein gelbes Buch“ haben wollen. Beltz hat eine ganze Reihe Neuerscheinungen. Vor allem die „Menschengeschichten“, das dritte Jahrbuch der Kinderliteratur, mit Beiträgen von

140 Autoren: Sie erzählen vom Ablauf der Zeit und vom Leben der Menschen.

Neu ist von Peter Härtung die „Oma“ — es ist die Geschichte eines Fünfjährigen, der seine Eltern verliert und von seiner Oma aufgenommen wird. Er merkt, „daß alles ganz anders ist als früher, mit Vater und Mutter, daß Omi prima ist, aber — alt. Und Oma denkt: Hoffentlich kann ich den Jungen richtig erziehen — in meinem Alter! Sie haben viel Spaß miteinander, aber es ist auch nicht immer ganz einfach.“

Ganz großartig: „Worte kann man drehen“ von Hans Manz. Ein Buch darüber, was man mit der Sprache — und was die Sprache mit einem alles machen kann. Kinder, die solche Bücher gelesen haben, werden keine Schwierigkeiten haben, eine Literatur zu verstehen, die heutigen Erwachsenen wie ein Buch mit sieben Siegeln (oder, schlimmer, einfach lächerlich) erscheint.

Es gibt aber auch eine ganz Menge neuer Spiele. Wobei uns auffällt: Die Zeiten, in denen neue Gesellschaftsspiele unweigerlich Varianten längst bekannter Gesellschaftsspiele darstellten, sind offenbar vorbei. Die Phantasie der Autoren hat ein neues Feld entdeckt. Leute, die sonst Bücher schreiben, erfinden völlig neue Spiele. Der bekannte Kinderbuchautor Janosch zum Beispiel erfand für Ravensburger (Otto Maier) ein Wettrennspiel, das jedes Mal damit beginnt, daß man den zerlegbaren Spielplan nach Lust und Liebe zusammensetzt, so daß der Spielablauf jedesmal anders ausfällt: „Spielhus“. Fast ein Durchbruch war das Spiel „Malefiz“ (wie alle anderen hier genannten Spiele: Ravensburger), das Familien süchtig machen kann, da die Schwierigkeiten, welche die Spieler einander auf dem Weg ins Ziel vor die Füße werfen, progressiv zunehmen, um dann plötzlich vor dem Spieler zusammenzubrechen (geeignet für alle von fünf bis siebzig). Das neue Spiel „Via-duct“ stellt die Spieler vor die Notwendigkeit, eine Brücke aus Steckteilen quer über das Spielfeld zu bauen, wobei erstaunliche Architekturgebilde entstehen. Erst moderne Plastikmaterialien haben ein Spiel wie dieses möglich gemacht — zum Plastik kam die entfesselte Phantasie, „Viaduct“ ist für Kinder wie für Erwachsene bestimmt und äußerst kurzweilig. Ähnliches gilt für „Grand Prix“, hier sind die Regeln schon etwas komplizierter, ich würde sagen — beherrschbar ab neun bis zehn Jahren.

Dafür dürfen alle Lebensalter' bei „Haltet den Dieb“ lachen. Auch hier wurden ganz neue Ideen verwirklicht: Es gilt, Karten in einer bestimmten Reihenfolge zu sammeln und abzulegen, so daß eine Diebsgeschichte entsteht. Hier können auch die Kleineren ohne weiteres schon mitspielen, ohne daß sich die Größeren „zurückgestuft'' fühlen.

Geradezu wichtig, wenn dieses Wort bei einem Spiel erlaubt ist, erscheint uns die „RGG-Verkehrstisch-decke“ aus dem „Rot-Gelb-Grün-Verlag Braunschweig“. Denn hier werden auf einer Tischdecke mit einem hübschen Straßenplan und mit ansprechendem Spielmaterial, Verkehrssituationen eingeübt und damit lebenswichtige Verhaltensweisen.

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