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EIN KÖDER FÜR DIE SOWJETTRUPPEN

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Am 19. November 1942 trat die Rote Armee zu einer Großoffensive an. Nördlich von Stalingrad, am unteren Don, aus verschiedenen Brückenköpfen griff die sowjetische Südwestfront mit mehr als 50 Divisionen die Front der 3. rumänischen Armee an. Der Durchbruch erfolgte binnen zwei Tagen.

Am 20. November 1942 kam Bewegung in die südliche Flanke der Deutschen in der Kalmückensteppe südlich von Stalingrad. Zwanzig sowjetische Divisionen durchbrachen hier die Hauptkampflinie der 4. rumänischen Armee. Zwei Tage später trafen die Offensivzangen im Rücken von Stalingrad bei Kaiatsch zusammen.

Damit waren die 6. deutsche Armee mit 20 Divisionen, zwei rumänische Divisionen und ein kroatisches Infanterie-Regiment - rund 307.000 Mann (genaue Zahlen existieren bis heute nicht) - im Raum zwischen Don und Wolga bei Stalingrad großräumig eingeschlossen.

Das Drama um Stalingrad nahm nun seinen Anfang. Am 23. November 1942 bat Generaloberst Paulus bei Hitler um „Handlungsfreiheit". Zu diesem Zeitpunkt hätte er noch die Chance gehabt, seine Truppen von der Wolga geordnet zurückzuziehen. Hitler - in Erinnerung der Desaster vor Moskau im Dezember 1941 - befahl jedoch: „Die 6. Armee igelt sich ein und wartet Entsatz von außen ab!" Eine Luftversorgung wurde für die 6. Armee in Gang gesetzt. Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, versprach, dies zu organisieren. Es wurde ein Fiasko. Anstelle des benötigten Kriegsmaterials von tagtäglich 300 Tonnen vei mochte die Luftwaffe lediglich 95 Tonnen in den Kessel zu transportieren.

Schrecklicher Opfergang

Hitler setzte nun alles daran, die 6. Armee zu befreien, das heißt, die „alte Lage" vor dem 19. November wieder herzustellen. Dabei mußte er zur Kenntnis nehmen, daß die 3. und 4. rumänische Armee mit Teilen der 4. deutschen Panzerarmee beinahe vollzählig aufgerieben wurde. Generalfeldmarschall Erich von Manstein sollte nun aus dem Räume Kotelni-kowo mit einer Angriffsgruppe die Verbindung zur 6. Armee in Stalingrad wieder herstellen. Bis die Truppen antraten, war jedoch bereits der 12. Dezember 1942. Das Oberkommando der Roten Armee konnte in der Zwischenzeit seine Truppen um Stalingrad verstärken, ja Mitte Dezember am mittleren Don sogar eine Großoffensive gegen die 8. italienische Armee durchführen. Damit kam auch die Don-Front des deutschen Ostheeres ins Wanken. Mansteins Angriffsgruppe gelang es zwar am 21. Dezember 1942 bis auf 48 Kilometer an Stalingrad heranzukommen, blieb jedoch letztlich am Fluß Myschenko gegen heftigen Widerstand der Roten Armee liegen.

Paulus erlebte dramatische Stunden. Er bat um die Genehmigung, einen Gesamtausbruch der 6. Armee in Richtung Westen auszulösen und somit Manstein entgegen zu eilen. In der Tat, dies hätte die Rettung der Truppen bedeutet. Aber Hitler sagte: Nein. Die 6. Armee muß in Stalingrad bleiben!

Was Paulus nicht wußte und worüber man lange Zeit - auch nach dem Krieg - nicht schrieb, war folgendes:

Das „Unternehmen Braunschweig", die Sommeroffensive des deutschen Ostheeres hatte Ende November im Desaster geendet. Die Truppe war ausgelaugt, Hitlers strategische Pläne waren gescheitert. Das deutsche Afrikakorps von General Rommel erlitt am 23. Oktober 1942 an der El-Ala-mein-Front vor Kairo eine Niederlage, es mußte den Rückzug antreten.

Somit waren die Palästina-Pläne

Hitlers hinfällig geworden. Am Südabschnitt der Ostfront drohte die ganze Don-Front der Deutschen einzustürzen. Ende Dezember 1942 mußte die 3. und 4. rumänische Armee abgeschrieben werden, die 8. italienische Armee existierte nur auf dem Papier und die Rote Armee schickte sich an, auch die 2. ungarische Armee nördlich von Pawlowsk zu zerschlagen. Mansteins Truppen traten zu Weihnachten 1942 den Rückzug an, um überhaupt weiter im Westen eine neue Abwehrfront bilden zu können.

Am 28. Dezember faßte Hitler den Entschluß, nicht nur Mansteins neue Heeresgruppe weit zu

Rodenburg)

rück in den Westen zu verlegen, sondern auch die Heeresgruppe A aus dem Kaukasus zu evakuieren (siehe Seite 11). Diese Rückzugsbewegung nahm mit dem 1. Jänner 1943 ihren Anfang.

Und die 6. Armee? Sie sollte weiter in und um Stalingrad ausharren und somit sowjetische Kräfte binden. Eigentlich wurde Paulus' Armee zu einem Köder für die Sowjets, denn Stalingrad hatte im Jänner 1943 mehr als 40 sowjetische Divisionen gebunden. Divisionen, die für das Oberkommando der Roten Armee gut

gekommen wären, um mit einer kühnen Offensive bis Rostow durchzustoßen und die gesamte Heeresgruppe A im Kaukasus in einem Kessel einzuschließen.

Der Jänner 1943 wurde für die 6. Armee ein schrecklicher Opfergang. Paulus ließ sich mit den Sowjets in keinerlei Kapitulations verhandlungen ein, obwohl er wissen mußte, daß seine Armee von Hitler zum Tode verurteilt wurde.

Das große Sterben in und um Stalingrad, hervorgerufen durch Hunger, Entbehrungen, Kälte - und nicht zu-

letzt durch die ab 12. Jänner 1943 immer intensiver werdenden sowjetischen Kriegshandlungen gegen die eingeschlossenen Truppen der 6. Armee nahm bisher unbekannte Dimensionen an.

Die Latrinen-Parole „der Führer haut uns raus" wurde zur Farce. Soldatischer Gehorsam - jawohl, stellen wir es fest - und blindes Vertrauen in die eigene Führung ließen keine Revolte unter den von Entbehrungen dezimierten Truppen aufkommen. Auch die Rumänen und die Kroaten teilten das Schicksal im Kessel mit

ihren deutschen Verbündeten. Das Oberkommando der 6. Armee erlebte schwere Tage: Paulus war am Ende der Schlacht in jeder Hinsicht ein seelisch gebrochener Mann.

Und das Ende kam am 31. Jänner 1943. An diesem Tag ließ Hitler Generaloberst Paulus zum Generalfeldmarschall ernennen - mit dem Hintergedanken, daß ein deutscher Generalfeldmarschall noch nie kapituliert hat und Paulus in den letzten Stunden des Kampfes Selbstmord begehen werde. Hitler verrechnete sich. Am gleichen Tag wurde Paulus von den Sowjets gefangengenommen. Er kapitulierte, wie er sich ausdrückte, nicht als Oberbefehlshaber, sondern als Privatmann. Somit verweigerte er die Bitte der Sowjets, die 6. Armee „geschlossen" in die Gefangenschaft zu führen.

Der Nordkessel von Stalingrad hielt sich kämpfend bis zum 2. Februar. Dann streckte auch dieser Rest der 6. Armee die Waffen. Die Sowjets waren auf eine derart große Zahl kriegs-gefangene deutsche Soldaten nicht vorbereitet. Sie konnten sie in den ersten Wochen gar nicht richtig unterbringen und ernähren. So geschah es, daß von den 91.000 Stalingrad-Soldaten, die noch in Gefangenschaft gehen konnten, bis 1956 rund 6.000 nach Deutschland zurückkehrten. Alle anderen starben in den ersten Monaten der Gefangenschaft.

Stalingrad bedeutet für die Rote Armee eine Sternstunde ihrer Geschichte, für die Deutsche Wehrmacht den Anfang vom Ende.

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