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Ein Land in Haß und Isolation

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Nachdem die ersten demokratischen Wahlen vorüber sind, ist das Interesse des Auslands an Albanien offenbar wieder eingeschlafen. Ob die neugeborene Demokratie in Albanien sich als lebensfähig erweist, welche Symptome einer vorübergehenden oder einer immanenten Schwäche der politische Säugling aufweist, verdiente aber wohl nicht weniger Interesse.

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Nachdem die ersten demokratischen Wahlen vorüber sind, ist das Interesse des Auslands an Albanien offenbar wieder eingeschlafen. Ob die neugeborene Demokratie in Albanien sich als lebensfähig erweist, welche Symptome einer vorübergehenden oder einer immanenten Schwäche der politische Säugling aufweist, verdiente aber wohl nicht weniger Interesse.

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Europa müßte auf Albanien schauen nicht zuletzt angesichts der instabilen Lage im Nachbarland Jugoslawien, wo insgesamt knapp drei Millionen Albaner ihrerseits gespannt die Entwicklungen in ihrem Mutterland verfolgen. Es ist auch keineswegs unwesentlich für Europa, ob in Jugoslawien die Armee auch im Kosovo zum politischen Akteur wird oder nicht, ob die Forderungen im neuen albanischen Parlament nach Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Autonomie im Kosovo politische Aktivitäten zur Folge haben werden, und schließlich wäre es sogar sehr wesentlich, daß Europa sowohl den regierenden als auch den regierten Albanern das Gefühl vermittelt, ihr politisches Schicksal im Zeichen der Demokratisierung und allgemeinen Reformbewegung werde weiterhin mit Aufmerksamkeit beobachtet.

Zu den großen Problemen, mit denen sich Albanien in seiner unmittelbaren Zukunft konfrontiert sieht, gehören die politischen Ex-Häftlinge und die Ex-Deportierten. Deportiert wurden vom Enver Hodscha-Regime Menschen aller Altersklassen, nachdem ein Familienangehöriger für ein politisches Delikt vor Gericht gestellt worden war. Mitunter dauerte die Verbannung 45 Jahre lang. Sie war nje gesetzlich verankert - das mag einer der Gründe dafür sein, daß auch die Nach-Hodscha-Führung es bis heute nicht für nötig befunden hat, diese Leute zu rehabilitieren.

Wieviele es von ihnen gab oder noch gibt, weiß keine offizielle oder nicht-offizielle Quelle anzugeben. Einig ist man sich lediglich darin, daß ihre Zahl sehr hoch ist. Allein in den letzten anderthalb Jahren wurden mehr als 1.000 politische Häftlinge freigelassen. Das bedeutet schon tausend Familien mit oft fünf und mehr Angehörigen, die deportiert wurden, in den seltensten Fällen an den gleichen Ort.

Radikale Vorstellungen

Häufig hatten sie jahrzehntelang untereinander keinen Kontakt, meist wurden ihre Wohnungen, Häuser, Möbel, Bibliotheken, Kunstsammlungen, unveröffentlichte Manuskripte et cetera konfisziert (ganz selten wurde etwas zurückerstattet). Wer aus der Deportation entlassen wurde - in den letzten Jahren mehrten sich solche Fälle - hatte fast nie ein „Zuhause", in das er zurückkehren konnte. Er hatte keine Zuzugsgenehmigung in die Stadt, aus der er vertrieben worden war, keine Arbeitserlaubnis (weil er nie verurteilt beziehungsweise nicht registriert worden war); die Ex-Deportierten wurden, ebenso wie die Ex-Häftlinge, wie Fremdkörper der Gesellschaft behandelt.

Daß sie seit Wochen ankündigen, in Tirana eine eigene Vereinigung zu organisieren, die ihre Interessen gegenüber dem Staat vertreten können soll, es dazu aber bis heute nicht gekommen ist, mag sehr wohl daran liegen, daß es nicht leicht ist, sie alle auf einen Nenner zu bringen. Waren sie schon Vor ihrer Verhaftung höchst unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung, so haben zweifellos die Erfahrungen, die sie seither machen mußten, gerade in der neugewonnenen nicht nur persönlichen, sondern auch der politischen Freiheit, diese Unterschiede dramatisch verstärkt.

Es kann nicht verwundem, daß nicht wenige Ex-Häftlinge heute überhaupt nur radikale politische \ orstellungen

mitbringen. Sie wollen alle Kommunisten sofort entmachtet sehen, sie haben nicht die geringste Vorstellung von politischer Demokratie; manche von ihnen wollen klare Rache. Sie sind mit anderen Worten ein kompliziertes politisches Element, nicht zuletzt für die bereits bestehenden Oppositionsparteien.

Viele Tausende sind zu Outsidern gemacht worden. Ihnen zu helfen ist eine Aufgabe, die sich der Staat bisher ganz zweifellos gar nicht gestellt hat. Sie zu integrieren aber ist eine Notwendigkeit - erstens aus humanitären, aber gleich darauf auch aus politischen Gründen. Aus einer Kombination von Haß, Desperation, konkreter Not und Hoffnungslosigkeit entstehen Radikalisierung und letztlich asoziale Verhaltensweisen. Auch für diese Menschen müßte sich Europa interessieren - gerade die Opfer des alten Regimes verdienten eine Initiative politischer und humanitärer Institutionen im europäischen Westen, der sich so gern als Lehrmeister in Sachen Demokratie anbietet.

Dieses Problem ist spezifisch albanisch. Mit den übrigen Ländern, die in der einen oder der anderen Form das Modell des zentralistisch-monolithi-schen, wirtschaftlich-politischen Regiertwerdens überwinden wollen, haben die Albaner das Problem gemeinsam, daß ihre Oppositionsparteien kein überzeugendes, ihren Voraussetzungen entsprechendes System anzubieten haben.

Albanien mit seinen Menschen und seiner Landschaft könnte - wie die Schweiz und wie Österreich, wie Holland oder das noch kleinere Dänemark - eine Enklave werden für europäische und andere Touristen, die in ihren perfektionierten Industrie- und Wohlfahrtsgesellschaften verlernt haben, daß das Leben nicht nur aus Erfolg, aus Zielstrebigkeit in Richtung immer größeren Wohlstands besteht.

Noch blieb in dem seit Jahrhunderten geplagten Land der Albaner ein ziemlich ungebrochenes Verhältnis zur volkstümlichen Tradition erhalten. Noch empfinden sie zum Beispiel eine tiefe Verpflichtung und die Bereitschaft zur persönlichen Freund-

schaft jedem Besucher gegenüber, der mit guten Absichten in ihr Land, in ihr Haus, kommt. Sie werden es ganz und gar nicht verstehen, wenn sie nicht in anderen Ländern mit der gleichen Bereitschaft und Gastfreundschaft aufgenommen würden.

Daß ein Albaner, der heute jederzeit einen Paß von seinen Behörden bekommen kann (wenn auch mit einer Reihe von bürokratischen Hindernissen verbunden), spezielle Visa braucht, um in westliche Länder einreisen zu dürfen, ist für ihn unverständlich. Er hatte geglaubt, nur sein unmenschliches politisches System habe ihm bisher die Freiheit zu reisen verweigert - eine Ansicht, die ihm auch aus westlichen Informationsquellen jahrelang bestätigt wurde.

Enorme soziale Ungeduld

Für die prominenten Politiker des mächtigen Westen ist Albanien auch heute ein weißer Fleck. Für die großen Industrieunternehmen ist Albanien ein uninteressantes Risiko. Aber für die kleinen Unternehmer, die auf persönlichen Kontakt angewiesen sind, bestehen zweifellos Möglichkeiten. Die wenigen West-Kontakte, die es bisher im wirtschaftlichen Bereich Albaniens gegeben hat, werden von den westlichen Partnern als durchaus positiv gewertet, weil -abgesehen von den systemimmanenten Beschwerlichkeiten - der albanische Partner verläßlich ist und kooperativ. Für die unseriösen Spekulanten aber, die in den unerfahrenen albanischen Geschäftsleuten, die jetzt beginnen können, eigene Initiativen zu entfalten oder Kontakte zu knüpfen, willkommene Opfer wittern mögen, ist Albanien zweifellos höchst interessant.

Die soziale Unruhe und Ungeduld in Albanien ist enorm. Jeder steht unter dem Druck, schnelle Änderungen herbeizuführen oder zu erleben. Fehlentscheidungen, übereilte und oberflächliche Lösungen sind daher vermutlich unvermeidlich in nächster Zukunft. Darin wird es wohl keinen Unterschied geben zwischen den noch immer regierenden Kommunisten und der für das Regieren noch kaum reifen Opposition.

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