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Ein langer Flug

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Haben Sie schon einmal den Kurs einer Düsenverkehrsmaschine im Fluge abgei;h'leert, ohne dabei einen Akt sogena????n..ter Flugzeugentführung oder Lu\tpiraterie zu begehen? Habe- cher den von Ihnen gewünschte!)., ursprünglich im Flugplan ????iCht vorgesehenen Flughafen erreicht und die Maschine verlassen, .' _ly.te,, ????n Handschellen abgeführt oder von Gewehrschüssen durchlö????hert oder von einer Granate zerrissen zu werden? Falls Sie die$???? (r????gen

bejahen können, frager{ Siele sih: Sind Sie auch nicht der Präsident oder Eigentümer einer Flpggesellschaft, oder ein hochgestelltes Tier, dem fast alles durchgeht? Wenn nein, wer sind Sie dann?

Doch nicht etwa ein bescheidener Einwanderer in d????e V ????ajnigten Staaten von Amerika, über dem Atlantik unterwegs von Ost????n nach Westen ins Unge????isse? Sipd'. Sie g????i­ ein unauffälliger junger. Men????ch, der von sich behauptet, y'.on ????μ,rppa genug zu haben und nicbt auf den Gedanken verfällt, daB Europa genug haben könnte von Ihnen? Als hätte Europa nicht immer schon seine schwierigen Kinder 1*ber.den

großen Teich geschickt. Führen Sie im Schlepptau Ihrer kühnen Unternehmungen vielleicht ein schönes Mädchen mit irisblauen Augen und leuchtenden, dunklen Haaren, das sie geradeheraus Ihre Frau nennen, ohne Dokumente für diesen Anspruch liefern zu können? Sitzt diese Schönheit auf Reihe 24, Sitz B, des bis auf den letzten Platz ausgebuchten Jumbo Jets? Sitzen Sie selber auf Platz A, dem Fensterplatz, und haben Sie Ihrer geliebten Schönen beim Einsteigen frech erklärt, daß Sie, als der Intensivere von Euch beiden, Anrecht auf den Fensterplatz haben? Mißhandeln Sie dieses Mädchen und nennen es doch Ihren Engel? Verleihen Sie ihr tausend zärtliche Namen, die vor der Wirklichkeit nicht standhalten können? Sind Sie der sinnlichste aller sinnlichen Menschen, und dennoch zur Liebe unbegabt? Halten auch Sie, wie Hunderttausende von Einwanderern vor und neben und nach Ihnen, den braunen Umschlag in Händen, den Ihnen das Konsulat der Vereinigten Staaten verschlossen übergeben hat, mit der Weisung, ihn weiterzureichen an

den Grenzbeamten bei der Ankunft in Amerika? Wissen Sie, was der braune Umschlag enthält? Vermuten Sie, daß die Röntgenbilder Ihrer gesunden Lunge und der negative Befund Ihres Syphilistests und die von Ihnen unter Eid gemachten Auskünfte zu Ihrer Person darin verborgen seien? Sie selber, der ganze Mensch, im braunen Umschlag? Macht der Gedanke Sie stolz oder demütig? Und stimmt der Besitz Ihrer schönen Geliebten Sie überm????tig, falls Sie, was nur zu wahrscheinlich ist, in Sachen Frauenliebe an Besitz glauben? Oder stehen Sie über den Dingen?

Dann irren Sie. Keiner steht über den Dingen, auch der nicht, der sich in 35.000 Fuß Höhe in einem silberglänzenden Jumbo Jet aufhält. Genießen Sie Ihre guten Beziehungen zum Stationschef Ihrer Airline, die Ihnen und Ihrer schönen Begleiterin diesen Gratis????lug eingetragen haben? Sie fliegen umsonst, weil Sie dem Flughafenleit????r Ihrer alten Heimatstadt zum Saufkumpanen geworden sind. Zufällig in derselben Bar wie jener zu verkehren, diesem einen doppelten Whisky zu spendieren, hat schon ausgereicht. Oder hat Ihre schöne Begleiterin den Säufer besol\ders lieb . anlächeln müssen? Was wissen Sie über den Preis Ihrer Grati????reise? „Was, nach Amerika wollen Sie? Auf unseren gottverdammten Maschinen sind immer einige Plätze frei; ich lade Sie ein, Sie fliegen mit mir! " Hätten Sie Ihr???? Passage nur deshalb bekommen, weil ein Betrunkener seine Macht zeigen wollte? Wären Sie ein geschickter Manipulator der menschlichen Schwächen, ein präziser Glückspilz oder ein Anarch der Seele?

Wissen Sie auch, daß Sie Gast einer Charterfirma sind? Daß Chartermaschinen häufiger als Linienmaschinen vom Himmel stürzen? In Ostafrika, in Spanien, im Indischen Ozean stürzen sie ab, und die Zeitungsnachricht macht nie die erste Seite. Wie werden Sie fertig mit dieser Wirklichkeit? Mit dem Hin- · dernislauf über die Knie der eingeschlafenen Passagiere neben Ihnen, mit dem Busen einer alien Touristin in der engen Reihe? Mit ·den engen Gängen, die verstellt sind von Bluejeans-Beinen und Nylonstrümpfen voller Laufmaschen? Ekelerregend ist so ein Touristencharterflug, aber dem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Gehören Sie zu der Mehrheit, die es dennoch tut? Und haben Sie über den verspäteten Abflug am lautesten geschimpft? Als sei es wichtig, wann Sie ankommen in Amerika? Warum haben Sie es also eilig?

Es ist weit bis nach Los Angeles. Weit genug, auch wenn man pünktlich abfliegt. Sie haben Anspruch auf Ihre schlechte Laune, aber die anderen vierhundert Passagiere auch. Ihr Freund, der Stationschef, der Säufer, hat Ihnen den Auftrag erteilt, während des Fluges den· Kapitän im Cockpit zu besuchen. Sie sollen eire Nachricht überbrin-

gen Sie verstehen nicht warum, aber Sie kämpfen sich gern bis zum Cockpit vor. Das schöne Mädchen haben Sie zurückgelassen. Wo käme die Luftfahrt denn hin, wenn jeden Kapitän schöne Frauen betörten? Jede zweite Maschine würde an Bergen und Busen zerschellen. Ins Cockpit geht ein Mann allein. Es ist gar nicht so einfach, sich den Zutritt zu erbetteln. Die Hostessen sind eifersüchtig, sie geben ihren Kapitän nur ungern heraus. Aber Sie schaffen es, Sie haben ja Zeit, es ist weit bis nach Los Angeles. Sie stehen endlich im Cockpit. Geben Sie es doch zu, daß die Armaturen Sie beeindrucken ! Oder ahnen Sie wirklich, daß die Technik eine simple Sache ist, verglichen mit den Menschen? Was führt Sie hierher?

Sie übergeben dem Kapitän die verschlossene Nachricht Ihres Gönners, des Säufers. Der Kapitän reißt sie auf und liest. Er wird blaß, er liest nochmals. Dann flucht er und sagt zu seinem Kopiloten: Verdammt, unsere Firma hat Pleite gemacht. Heute um zwölf Uhr mittags, Greenwich Mean Time, ist es mit dem·Fliegen aus. Sie hören und

wundern sich, ob das bedeutet, daß Sie abstürzen werden? Aber es bedeutet nur, daß Sie nicht bis Los Angeles fliegen werden. Der Kapitän greift zum Mikrophon der Sprechanlage und erklärt den Passagieren, daß die Maschine in New York landen werde und weitere Verfügung für den Weiterflug erst dort getroffen werden könnten.

Obwohl Sie im Cockpit stehen, hören Sie durch die dünne Wand den Aufruhr aus dem Passagierraum. Vierhundert Menschen sind verwundert, sind empört, verstehen nicht. Sie aber, samt Ihrer schönen Freundin, die Sie als Ihre Frau bezeichnen, wollten immer schon nach New York fliegen. New York ist Ihnen das liebste Ziel. Sie bedanken sich beim Kapitän, der noch immer flucht. Sie verstehen nicht, wie ein kleines Stück Papier eine Route andern, eine Firma zerstören, Karrieren beenden, Passagiere wütend machen kann. Sie kehren befriedigt zur Reihe 24 zurück, Sie zwängen sich über die Knie Ihrer schlafenden Geliebten auf Platz A, Sie machen es sich. bequem und bestellen Champagner, was der auch kosten mag. Nach Los Angeles wären Sie nur geflogen, weil es gratis war. Eigentlich aber wollten Sie nach New York. Wenn dieser Zwischenfall nicht beweist, was für ein toller Kerl Sie sind! Kein Unglücksbote, ein Sieger.

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