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Ein Leben als Musikologe

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Zehn Tage vor seinem 75. Geburtstag — am 22. Dezember 1973 — starb Prof. Erwin Ratz. Er wurde in Graz geboren. An der Wiener Universität studierte er Musikwissenschaft bei Professor Guido Adler. Gleichzeitig war er Schüler Arnold Schönbergs und veranstaltete im Jahre 1918 Unter dessen Leitung „Zehn öffentliche Proben zur Kammersymphonie op. 9 von Arnold Schönberg“. Gemeinsam mit Alban Berg und Paul A. Pisk gründete er bald darauf den „Verein für musikalische Privataufführungen“, wo fast alle bedeutenden modernen Werke von Reger und Debussy bis Berg und Webern interpretiert wurden.

Die Tätigkeit dieses Vereins war die Voraussetzung für die im Jahr 1922 in Salzburg gegründete „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“' (IGNM). Nach der Berufung Schönbergs an die Berliner Akademie der Künste studierte Erwin Ratz bei Anton von Webern weiter, mit dem er bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden blieb. Von 1952 bis 1968 leitete er die österreichische Sektion der IGNM. Im Jahr 1945 wurde er als Professor für Formenlehre an die damalige „Akademie für Musik und darstellende Kunst“ (heute Hochschule für Musik) berufen, deren Lehrkörper er bis zu seinem Tod angehörte.

Im Jahr 1955 übernahm er die Leitung der neugegründeten „Internationalen Gustav-Mahler-Ge-sellschaft“. Diese Gesellschaft verfügt heute über ein umfangreiches Archiv und veröffentlichte unter seiner Leitung die „Kritische Gesamtausgabe der Werke Gustav Mahlers“. Außerdem hat er die Klaviersonaten von Franz Schubert und die Variationen für Klavier von Beethoven herausgegeben.

Seine wichtigsten Publikationen sind: Chronologie der Klaviersonaten Franz Schuberts, 1949; Erkenntnis und Erlebnis des musikalischen Kunstwerks, 1950; Die Originalfassung des Streichquartettes op. 130 von Beethoven, 1950; Einführung in die musikalische Formenlehre, 1951, 3. erweiterte Auflage, 1973; Zum Formproblem bei Gustav Mahler, Kassel, 1956; Gustav Mahler, Berlin, 1957; Persönlichkeit und Werk. Gustav Mahler zum 100. Geburtstag, in: ÖMZ, 1960; Analyse und Hermeneutik in ihrer Bedeutung für die Interpretation Beethovens, in: ÖMZ, 1970.

Das Wiener Musikleben verliert durch den Tod von Erwin Ratz eine seiner produktivsten Persönlichkeiten sowie seinen gerechtesten und strengsten Krititker. Wem er einmal vertraute, dem hielt er die Treue sein Leben lang, und wenn er einen für ein Nichts hielt, so sagte er das unumwunden. Durch die Lauterkeit seiner Person und seine vielen großen Leistungen hatte er sich dieses Recht erworben. Es gab kaum jemand, der es ihm streitig machte.

Erwin Ratz war nicht nur ein glühender Verehrer, sondern auch der gründlichste Kenner des Mahlerschen Werkes. Die größten Dirigenten ließen sich von ihm beraten. Die wenigen, die es nicht taten, waren nur berühmt und nicht wirklich „groß“. Erwin Ratz hat immer wieder Leonard Bernstein auf die Symphonien Mahlers hingewiesen und dadurch indirekt die weltweite Mahler-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkt. Dies war vielleicht die größte Freude und Genugtuung seines Lebens. Der kritischen Gesamtausgabe und der Sorge um seine Familie widmete er seine letzten Kräfte, stets das Große und das Menschliche vor alles andere setzend und daher ein „Fremdkörper“ — aber einer von der edelsten Art — in unserer verworrenen Zeit.

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