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Ein Maharadsdia-Flug

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Frankfurt: Massenauftrieb nervöser Passagiere, am indischen Schalter indisch getönt, dichter, lebhafter. Die deutschen Schalterbeamten der Air India sprechen ihr Deutsch und Englisch im weichen Singsang der Inder und behandeln den Pasisagier in Nöten als Weltleidensgefährten. Sonderwünsche werden mit einem Hin- und Herschieben des Kopfes auf starrem Hals zur Kenntnis genommen; sanfte, indische Aussage der Teilnahme, manchmal der Hilfsbereitschaft.

Ist diese Maschine inmitten der Düsenmaschinen aller Länder schon Indien? Die Hostessen im Sari erwecken in manchem Indienreisenden Hoffnungen, die sich unter dem Einfluß der Bildbände über die Tempelreliefs von Kadjurao gebildet haben. Sie erwartet Ernüchterung.

In der Maschine ist es zuerst der Geruchssinn, der indisch beeindruckt wird. Anregender, würziger Wohlgeruch von Curry. Man wird in Indien diesen Geruch nicht loswerden. Zurückgekehrt, trauerte idi der exotischen Würze nach und jedies europäische Gericht schien mir noch lange Zeit nach Pappendeckel zu riechen und auch so zu schmecken. Dann liegt in der sterilisierten Kabinenluft noch der Duft von einem Parfüm, schwerer und sanfter als das beste Europas. Monate später entdeckte ich das Geheimnis dieses Duftes: Riechöle, kostbare und seltene, werden in den ältesten Läden der großen Bazare von sehr reichen Männern feilgeboten. Die Maschine ist bis zum letzten Platz voll, Vorgeschmack auf die Städte Indiens. In Kalkutta (acht

Millionen), in Bombay (sechs Millionen) wird man diese Dichte körperlich fühlen. Die Maschine fliegt dem Staat der 550 Millionen zu, nach China die größte Bevölkerung: Vorgeschmack auf die indische Union, In der achtzehn Bundesstaaten sich aneinander reiben imd voneinander nicht loskommen, Vorgeschmack auf einen Dschungel der Sprachen, Kasten, Rassen.

Unter den Passagieren sind viele Ingenieure und Wissenschaftler aus allen Windrichtungen, Ost und West, im Sog der indischen Wirtschaft, die auf der Weltliste der Nationalprodukte immerhin an zehnter Stelle steht, freilich an zweiter stehen müßte. Zwei Atomwissenschaftler in einer Reisegesellschaft. Erstaunlicher Zufall? Weiß man denn nicht, daß Indien die bedeutendste Macht in der Atomforscäiung auf diesem Kontinent ist?

Kurze Zeit nach dem Abflug wird der indische Atomwissenschaftler den Anstoß zur großen Diskussion geben, die ihr Ende erst bei der Landung in Bombay findet. Wenn die indische Regierung wolle, könne Indien in kurzer Zeit auch eine militärische Atommacht werden, behauptet er. Alle Voraussetzungen seien geschaffen, alles griffbereit. „Um den Hunger zu verteidigen?" fragte ein anderer Inder, ein Arzt. „Ja uni den Hung’er zu verteidigen", antwortete der Physiker, „denn Pakistan will Indien — mitsamt dem indischen Hunger! Und auch China will Indien — mitsamt dem indischen Hunger." Politisch ganz weit rechts steht ein feuriger Dicker aus der bart-, turban- und messertragenden Sekte der

Sikhs: Aktivisten des freien Kapitalismus auf dem Subkontinent der feudalen Restbestände und des deklamatorischen Nehru-Sozialismus,

beider Teile der gespaltenen Kongreßpartei. Am Unternehmertum der Sikh, ihrer Großraumwirtschaft, werde Indien genesen. Der Arzt zweifelte: „Und die Landlosen in eurer Großraumwirtschaft?" „Die gehen in die Städte und werden Arbeitslose!"

„Was gesiWeht mit den Arbeitslosen?"

„Wenn sie Ärzte sind", sagt der Sikh dem Arzt, „können sie Hofärzte bei den Sikh-Familien werden!" Das ist nicht Zynismus. Das ist Sikh-Lebensgefühl. Zu Hause im Punjab warten auf den Sikh-Patriardien dreizehn Kinder: „Ich kafim es mir leisten!"

„Sie können es sich leisten", sagt der Arzt zu mir, „sie haben die Bodenreform auf den Kopf gestellt: Statt Güteraufteilung Landkonzentration in Sikh-Hand. Das haben sie verbrochen. Aber damit haben sie es auch gescäiafft, daß Indien sich in drei Jahren selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann. Den vom Land vertriebenen Arbeitslosen vor den Toren der automatisierten Industrien wird das aber nicht helfen." Ich bin schon, das Air-India-Nacht-mahl steht auch bereits voi: mir, mitten in Indien. Man weiß, daß Wahlen bevorstehen. Maßlos das Mißtrauen gegen die Politiker. Maßlos das Interesse an der Politik. Unverständlicher Pessimismus bei Menschen, die freiwillig in das Land zurückkehren, das sie als politischen und wirtschaftlichen Tiefpunkt der Erdkugel schildern. In der letzten Stunde vor der Ankunft in Bombay sind die meisten Inder still geworden — voll Spannung, voll Erwartung. Die ihr Land schwarz in schwarz gemalt haben, zählen die Minuten bis zur Ankunft auf indischem Boden. Und der Gast, der Tourist, spürt den Magnetismus.

Die Touristen in dieser Masdune sind eine Minderheit. Nidit jede Maschine hat es so gut. In Bombays Westend-Hotel dominiert das Schwäbische von Neckermann. In meiner Maschine gab es zwei Schweizer Hippies. Ihre Eltern hatten den Hin-und Rückflug bezahlt. Die Schwerfälligen mit den langen Haaren aus der Schweiz sind zu unecht, um je zu erfahren, was echte Hippies oft erst zu spät erkennen: Daß die Freiheit, die sie suchen, im Indien eines Hinduismus, von dem sie wenig ahnen, nur auf der letzten Stufe des Ausgestoßenseins und im rapiden Gefälle zum Untergang zu flnden ist. Einige Touristinnen sind auch dabei. Sie sind in jenem Alter, das Alleingebliebene oft nach Indien oder Japan treibt, auf der Suche nach Esoterik. Die Intellektuellen fischen bei den indischen Passagieren diskret nach Einladungen und das Fischwasser ist gut. Sie werden auf ihre Rechnung kommen und in jene intellektuellen Kreise eindringen, deren Existenz das wahre Wunder Indiens ist, die hoffnungsvoll bleiben, wo alles Hoffnungslosigkeit an den Tag legt und zum Zynismus rät, die nächtelang über wirtschaftliche und politische Systeme diskutieren.

wo scheinbar jedes System am Horizont verschwindet. Wieder fühle ich, daß die Air-India-Maschine schon Indien ist. Die Unsicherheit der Inder hat noch auf dem Flughafen Züge von Arroganz getragen, jetzt ist sie dem Mitteilungsbedürfnis gewichen. Selbstkritisch bis zur Selbstzerfleisdiung sind sie.

Eine Fliege ist in Frankfurt als blinder Passagier mit an Bord gegangen. Der indische Arzt: „Die Arme, wahnsinnig muß sie sein, nach Indien zu fliegen — oder sie ist in die falsche Maschine eingestiegen." Das Flugzeug ist offenbar voll der Wahnsinnigen. Der Arzt hätte in Berlin bleiben können. Jetzt fliegt er der Arbeitslosigkeit entgegen. Der Atomforscher hat mit sedner Forschungsanstalt in Duisburg gerungen, sie wollten ihn nicht weglassen, und mit sich selbst, er wollte nicht zurückkehren, wohin er jetzt doch fliegt. Hunderttausende Intellektuelle wollen Indien verlassen. Viele flnden im Ausland, was in Indien für sie das Paradies gewesen wäre. Die Landflucht der Intellektuellen ist für viele andere Länder eine Gefahr. Nach Indien kehren sie zurück. Anders als die Fliege wissen sie, was ihrer harrt.

Der Flugkapitän empfing mich im Cockpit. Air India wurde von einem Inder gegründet, R. D. Tata, der An-

fang der dreißiger Jahre im Alleinflug die erste Linienmaschine steuerte. Heute ist R. D. Tata Präsident des modernsten und sozialsten Stahlkonzems Indiens — und noch immer Präsident der Air India. Er selbst kontrolliert Qualiflkation und Leistung jedes Piloten.

Im Cockpit herrscht gelassenes Selbstbewußtsein. Ob es konfessionelle Restriktionen bei der Auswahl der Kapitäne gibt? Der Kapitän führt sich als Gegenbeweis an. Er ist Mohammedaner, sein Kopilot Hindu, die Mannschaft kommt aus allen Kasten. Ob auch Unberührbare, offiziell „scheduled Casts, geschützte Kasten" genannt, den Mannschaften angehören und Piloten werden können? „Sie können", sagt der Kapitän, „wenn ihre Bildung den Anforderungen entspricht. Ich kenne keinen beim Flugpersonal. Soziales Gewissen ginge da auf Kosten der Sicherheit." Die Kluft zu den Unberühr-baren kann auch R. D. Tata nicht überbrücken.

Vor dem Abflug von Europa steht die Frage, wo man landen will. New Delhi — von den englischen Kolonialherren als eine irreale Gartenstadt der zentralen Administration erbaut, es hat diesen Charakter behalten. Kalkutta — das ist Indien, tausendmal stärker, als man geahnt hat, zu stark für die erste Begegnung. Man muß viel Indien hinter sich haben, um zu spüren, wie faszinierend diese Kraft ist, die aus dem Zerfall kommt. Ich entschloß mich für Bombay. Wenn es eine Metropole des Südens in Indien gibt, so ist es diese Stadt.

Mit uns stieg die Fliege aus, die sicih als blinder Passagier bis Indien gehalten hat. „Ob sie hier Familienanschluß finden wird oder in der Fremde zugrunde geht?" sagte zum Abschied der Arzt.

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