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Ein Mann namens Blair

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Kein Jahr innerhalb des an bedrückenden Ereignissen so reichen 20. Jahrhunderts ist schon von vornherein mit derart starken Schwellenängsten besetzt gewesen wie das Jahr 1984. Die Ursache dafür ist nicht allein in George Orwells negativer Utopie zu suchen, die diese Jahreszahl als Titel trägt, sondern in dem Zusammentreffen von Utopie und Realität.

Wer war jener hagere, scheu dreinblickende, dunkeläugige, nicht sehr anziehend wirkende

Mann vor der vollgestopften Bücherwand, die selbst gedrehte, krumme Zigarette in den Mundwinkel gedrückt?

Mit bürgerlichem Namen hieß er Eric Blair und kam 1903 in Mo-tihari in Bengalen zur Welt. Sein Vater, Richard Blair, überwachte als kleiner Beamter der indischen Kolonialverwaltung den legalen Opiumhandel mit China. Seine Mutter, Tochter eines Teakholzhändlers aus Frankreich, übersiedelte bald nach der Geburt mit dem kleinen Eric und dessen älterer Schwester Marjorie nach England. Der Vater hatte zwar seine Urlaube immer mit der Familie verbracht, war aber erst 1912, nach seiner Pensionierung, endgültig nach England zurückgekehrt.

Daß der junge Eric Blair sich seines Vaters als eines kratzbürstigen älteren Herrn erinnerte, muß seine Ursache nicht allein in dessen langen Abwesenheiten haben; denn schließlich war es seine Schwester selbst, die den jungen Eric als geborenen Einzelgänger bezeichnet hat, dessen Verhältnis zur Familie immer „distanziert, ja man könnte fast sagen unpersönlich" war.

Auf das St. Cyprian-Internat in Eastbourne kommt er im Alter von acht Jahren oder, wie er es selbst später sarkastisch formulieren sollte: er wird „hineingeworfen in eine Welt der Gewalt, des Betrugs und der Heimlichkeiten, so wie ein Goldfisch, den man in einen Teich voller Hechte wirft". Immerhin verhalfen ihm die Erziehungsmethoden des Direktors Wilkes zu einem Stipendium in Eton und zu der Erkenntnis, daß man es auch als Außenseiter zu etwas bringen könne. Eine ver hängnisvolle Erkenntnis; wenn pian bedenkt, daß sich über seine Jahre in dieser Elite-Schule nicht viel mehr sagen läßt, als daß er es zu einigem Selbstbewußtsein gebracht hat.

Der erste Haken, den Eric Blair schlägt, ist sein Eintritt in die Kolonialpolizei. Seine fünf Jahre dauernde Dienstzeit in Birma endet mit einem Protest gegen die britischen Regierungsmethoden in Indien. Den Schlußstrich darunter zieht er in dem Buch „Burmese Days", in dem er das Treiben der Weißen, aber auch der „Eingeborenen" schonungslos bloßlegt.

Spätestens beim zweiten Haken, den der zu George Orwell umgetaufte Eric Blair nun schlägt, beginnt man den Grundwiderspruch seiner Existenz zu erkennen: daß seine wiederholt unternommenen Versuche, mit den Ärmsten der Armen, mit den Arbeitslosen und Tramps zu leben, sich mit ihnen zu solidarisieren, ihn nicht viel mehr gekostet haben, als die beim Trödler um einige Pennies erstandene zerschlissene und verdreckte Kostümierung.

Denn die Absicht, seinen Lebensweg drastisch zu ändern, sich als Landstreicher in England, als Tellerwäscher in Paris oder als Sandler in London durchzuschlagen, dauerte bestenfalls sechs Wochen. Danach folgte die Rückkehr in behagliche Sicherheit.

Wesentlich mehr Einsatz, vor allem an Leben und Gesundheit, verlangte ihm der dritte Haken ab, den er nun schlug: die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Seine Ablehnung alles Konventionellen ver-anlaßte ihn dazu, sich einer Splittergruppe der extremen Linken anzuschließen. Durch die Kugel eines Scharfschützen verlor er beinahe die Stimme, die seither seltsam dünn und heiser klang. Seine Enttäuschung über diesen Krieg hat Orwell in dem Buch „Homage to Catalonia" zusammengefaßt, das zugleich seine Abkehr vom Kommunismus markiert. Nun erkannte er, daß , jede Gesellschaft, die ein Paradies auf Erden errichten will, notwendigerweise und immer in Tyrannei enden muß". Eine Einsicht, die dem eigensinnigen Einzelgänger, zur humorvollen Groteske „Ani-mal Farm" verarbeitet, Weltruhm einbrachte.

Sein letztes Buch, den Roman „1984", schrieb er im Wettlauf mit der Schwindsucht, die er sich im feuchtkalten Klima der Insel Jura geholt hatte. Nach dem Tod seiner Frau war diese Insel eine Art Fluchtpunkt für ihn geworden; eine karge, abweisende Urland-schaft, der er die letzte, einsamste Sammlung seiner Kräfte abtrotzen wollte. Denn er war immer rücksichtslos gegen sich selbst gewesen, aber auch unfähig, anderen seine Liebe zu zeigen. An dieser seiner zentralen Schwäche kranken die meisten seiner Bücher.

Der Autor ist Leiter der Hörfunk-Hauptabteilung für Schulfunk und Wissenschaft.

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