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Ein Mann, wie von Joseph Roth erfunden

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Robert Musil spricht im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften" von der alten Donaumonarchie als einem „unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist".

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Robert Musil spricht im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften" von der alten Donaumonarchie als einem „unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist".

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An diesen Ausspruch mußte ich denken, als ich vor kurzem Abschied nehmen sollte von einer Banknote, die von der Nationalbank eingezogen worden war: Es ging um den 50-Schillingschein, auf dem das Porträt des großen österreichischen Gelehrten Richard Wettstein abgebildet ist.

Wie viele wissen noch, wer er gewesen ist? Der Schreiber dieser Zeilen hat ihn vor Jahrzehnten an der Wiener Universität nur einmal kurz gesehen, doch sein „Lehrbuch der Botanik" haben alle damaligen Mittelschüler gekannt.

Richard Wettstein von Westers-heim, der am 30. Juni 1863 in Wien geboren wurde, wirkte seinerzeit zunächst an der Deutschen Universität Prag, dann in Wien als Inhaber der Lehrkanzel für Botanik und als Direktor des Botanischen Gartens seit 1899 in Wien. Nicht von seinen international bekannten Leistungen auf dem Gebiet der Systematischen Botanik soll hier die Rede sein, sondern von der beispielhaften humanen Toleranz seines Wesens. Auf ihn trifft das oben zitierte Wort „vorbildlich" von Robert Musil in vollem Maße zu. Das soll eine denkwürdige Episode in Erinnerung rufen, die sich im Mai des Jahres 1914 zugetragen hat, als Wettstein Rektor der Wiener Universität war, also noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie lebten auch viele Italiener, die nach politischer Selbständigkeit strebten und daher kritisch gegen das Habsburgerreich eingestellt waren. Zu ihnen gehörte auch der später als Schriftsteller tätige Biagio Marin, der damals als Student mit anderen Gleichgesinnten für die Errichtung einer italienischen Universität in Triest eintrat, das ja zu jener Zeit zu Österreich gehörte. Marin berichtete später (in „Trieste" Nr. 28,11/121958) von seiner Vorsprache in dieser Angelegenheit beim damaligen Wiener Rektor, der 1913/14 Richard Wettstein war. (Ich verdanke die Übersetzung aus dem Italienischen meinem Triester Kollegen Claudio Magris.) In den Erinnerungen Marins heißt es:

„Nun war ich im Frühjahr desselben Jahres (1914) im Mai mit Zanetto Deperis zu seiner Magnifizenz, dem Rektor der Universität Wien, gegangen, um ihm mitzuteilen, daß die italienischen Studenten am 14. im großen Vorhof eine Sympathiekundgebung für die italienische Universität in Triest abhalten würden. Es war die letzte und sie fand am 14. Mai statt, wenn ich nicht irre. Der Rektor empfing uns höflich, aber stehend.

Nachdem ich ihm meine Botschaft überbracht hatte, fragte er mich, was wir uns wirklich von diesen Kundgebungen versprachen. Und ich antwortete ihm mit jugendlicher Anmaßung: Wir wollen unsere italienischen Landsleute auf unsere Lage aufmerksam machen, uns notfalls zu befreien, gegen Österreich Krieg zu führen! Wir sprachen deutsch. Er antwortete, beinahe schmerzlich verwundert: Junger Mann, was sagen Sie? Und ich antwortete ihm, ohne zu zögern: Ich sage, daß wir wollen, daß Italien Österreich den Krieg erklärt...

Daraufhin machte der Rektor eine Handbewegung, daß wir uns setzen sollten, und er selbst nahm uns gegenüber Platz, und in gutem Italienisch begann er zu sprechen: Ich liebe Italien, ich liebe die Italiener, weil ich sie kenne. Ich habe lange Jahre in Rovigo im Institut für Biochemie und

Meereskunde gelebt, ich habe dann weitere Jahre in Neapel gearbeitet, und unter euch habe ich mich immer wohl gefühlt. So habe ich Volk und Land lieben gelernt. Auch seine Schwächen. Andererseits: Haben Sie nie daran gedacht, wie jung der italienische Staat ist und daß er noch nicht reif genug ist? Der österreichische Staat dagegen ist alt und fester gefügt. Im Falle eines Krieges zwischen Österreich und Italien fürchte ich, daß der jüngere Staat nicht nur schlechter dabei wegkommt, sondern seine Existenz aufs Spiel setzt. Haben Sie nie über diese Gefahr nachgedacht, junger Mann? Und können Sie als Patriot die Verantwortung dafür tragen? Wäre es nicht angebracht, die Situation realistischer und nüchterner zu betrachten?

Ich war sprachlos. Es stimmte: Daß der italienische Staat im Falle eines Zusammenstoßes unvorbereitet und untauglich sein könnte, daran hatte ich nie gedacht. Aber das dauerte nur einen Augenblick: Meine jugendliche Torheit gewann sofort wieder die Oberhand über die Vernunft, über den Ernst der mir gestellten Frage. Und ich antwortete: Eure Magnifizenz, wir werden Österreich schlagen. Da erhob sich der Rektor, ohne die Ruhe zu verlieren, nur ein wenig schmerzlich betroffen, reichte mir die Hand und sagte mit ruhiger Stimme wieder auf deutsch: Junger Mann, ich wünsche Ihnen und Ihrem Vaterland alles Gute! - Ich vermag nicht zu sagen, wie ich dieses Zimmer verließ. Die Vornehmheit und die Worte dieses Mannes hatten meine Seele tief beeindruckt."

Man muß bedenken, was die Forderung der italienischen Irredentisten zur damaligen Zeit bedeutete, da ja Italien auf Grund des Abkommens von 1883 mit Österreich und Deutschland zum „Dreierbund" gehörte, also im Falle eines Angriffs von Frankreich oder Rußland Verbündeter der Monarchie zu sein hatte. Marin, der später als italienischer Kriegsfreiwilliger für sein Vaterland kämpfte, das sich der Verpflichtung gegenüber dem Dreibund entzog, hat die Haltung Wettsteins nie vergessen in einer Art „Heimweh und Nachtrauer", wie Claudio Magris später in seinem Buch „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" (italienisch 1963, deutsch 1966) schreibt.

Die Banknote mit dem Bildnis Wettsteins hätte noch ausgewechselt werden können, doch ich habe sie mir zur Erinnerung an diesen großen Österreicher aufbewahrt.

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