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Digital In Arbeit

Ein Monster ist erwacht

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Die Zeit der fetten Einschaltziffern für die großen Fernsehanstalten ist vorbei, die Vielfalt der elektronischen Medien nimmt zu - mit weitreichenden Folgen in vielen Bereichen.

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Die Zeit der fetten Einschaltziffern für die großen Fernsehanstalten ist vorbei, die Vielfalt der elektronischen Medien nimmt zu - mit weitreichenden Folgen in vielen Bereichen.

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Der Videorecorder ist die Mediensensation des Jahres. Nach jahrelangem Dornröschenschlaf hat ihn der US-Konsument plötzlich wachgeküßt, und ein Monster ist aufgestanden, das vor allem den Pay-TV-Programmen und den großen Networks heftig zu schaffen macht. Die kommerziellen Fernsehanstalten können ihre heüige Kuh, die Einschaltziffer, nicht mehr messen: kein Mensch weiß, ob der Recorderbesitzer wann was anschaut und ob er im Schnellgang über die Werbeblök-ke rast oder sie konsumiert.

Pay-TV verliert gegen die Kassetten dreifach: Der Film ist zuerst auf Kassette erhältlich, bevor er ins TV kommt, und alle Bemühungen um eine Änderung zerschellen an den Filmstudios, da diese nicht zum dritten Mal den Einfluß auf die „Verteüung” ihrer Ware verlieren wollen und daher selbst dick im Kassettengeschäft involviert sind. Die Filme im Pay-TV laufen nach einem bestimmten Stundenplan, die Kassette gibt Zeitautonomie. Kassetten sind zwar teuer, wenn man sie kauft, aber bülig beim Ausleihen. Für zwei oder drei Dollar bekommt man seinen „Wunschfilm” für 24 Stunden.

1982 gab es nur fünf Millionen Videorecorder in den Vereinigten Staaten, 1984 wurden sieben Millionen verkauft, damit haben zur Zeit 18 Millionen Haushalte ein Heimgerät. Die Prognose ist schwindelerregend: Bis Ende 1985 schätzt man, daß 24 Millionen Haushalte, das ist ein Drittel aller amerikanischen Fernsehhaushalte, mit einem Recorder ausgestattet sind. Kräftige Assistenz leistet der Videoclip bei diesem Boom. Die Schallplattenindustrie gibt heuer 100 Millionen Dollar für die Produktion von 200 bebilderten Schlagern aus, und die Jugend konsumiert.

8000 Kabelsysteme versorgen rund 38 Millionen der 85 Millionen US-Fernsehhaushalte. Im Durchschnitt hat ein amerikanisches Kabelnetz zwölf Kanäle, aber es gibt auch Netze mit 54; von 100 und mehr ist für die Zukunft die Rede. Die Kabel-TV-Gebühr, die der Zuschauer zahlt, inkludiert ein Programmpaket (basic service) von lokalen und überregionalen Programmen. Dazu kann der Konsument meist noch Pay-TV-Programm gegen eine Extra-Gebühr abonnieren.

Das Kabel hat sich in den 20 Jahren seiner amerikanischen Existenz gegen zahlreiche Feinde erfolgreich durchgesetzt. Gegen den Widerstand des Medien-Establishments, gegen die kommerziellen Fernsehanstalten und -Stationen, gegen die Telefongesellschaften, gegen die Medienpolitik und, wie immer bei neuen Medien, auch gegen die Kinobesitzer.

Heute ist das Kabel zwar mehr als eine Industrie und eine Verteiltechnik, aber doch nicht jenes eigenständige spezifische neue Medium, mit dem man anfänglich gerechnet hatte. Vor allem die Erwartungen in die Zweiwegkommunikation haben sich nicht erfüllt. Die Versuche wurden weitgehend eingestellt.

Und auch die lokalen, allen Bürgern zugänglichen Kanäle gibt es bei weitem nicht in allen Netzen, aber es gibt sie doch. Sie laufen, je nach Ambition der Betreiber, mit unterschiedlichem Erfolg. Es gibt stinkfade, aber auch ganz flotte, es wird gesteppt, gekocht, musiziert und diskutiert.

Film und Fernsehen spielen im US-Alltag nach wie vor eine wichtigere Rolle als in Europa, sie sind Teil der amerikanischen Kultur, Demokratie und des „way of lif e”. Im Geschäft mit den bunten Laufbildern kann man immer noch über Nacht reich werden — vor und hinter der Kamera - und auch ebenso rasch wieder ein Riesenvermögen verlieren.

Die freie Marktwirtschaft und damit der beinharte Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Zuschauers kombiniert mit den technischen Multiplikatoren Kabel, Satellit, Kassette bringt nicht nur mehr an „junk”, Kitsch und seichter Unterhaltung, sondern auch ein größeres Angebot von Unterscheidbarem, von Zielgruppenservice.

Wer nur zwei Fernsehprogramme empfangen kann, wird wenig Freude mit der Live-Ubertragung der Gemeinderatssitzung haben. Bei zehn Mischprogrammen ist aber ein elftes Spezialpro-gramm durchaus eine Bereicherung, ob es nun 24 Stunden Politik live aus Washington - ohne vorgekaute Reporter- und Moderatorenmeinung — ist oder spanische Programme, ob es die tägliche Sexualberatung ist oder Shows in chinesischer und japanischer Sprache, ob es die sensationell guten Naturfilme von National Geographie sind oder Computer-Lernprogramme.

Am Bildschirm hält sich jedes Angebot, das auf Publikumsinteresse stößt, wobei drei Prozent der potentiellen Zuschauer als Einschaltquote bei Minderheitenprogrammen als akzeptable Größe gelten. Die Summe dieser an Spezialprogrammen Interessierten ist aber so erheblich, daß die Zeit der großen Einschaltzahlen für die großen Networks vorbei ist.

Auf mehr Programme verteiltes Zuschauerinteresse ist aber gleichbedeutend mit weniger Konsumenten pro Werbespot, mit mehr Meinungsvielfalt, mit geringerer Öffentlichkeit pro Ereignis und damit — mit verteilter Macht.

Die Autorin ist Geschäftsführerin der „Ka-bel-TV-Wien”. Siehe auch „Schöne neue Fernsehwelt” (FURCHE Nr. 33/85).

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